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Die Capitana - Roman

Die Capitana - Roman

Titel: Die Capitana - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Gräber.
    Die Nachricht von diesen sechshundert Juden, die keinen Ort zum Schlafen und nichts zu essen hatten und mehrmals betrogen worden waren, erreichte den deutschen Millionär Baron Mauricio Hirsch, ebenfalls Gründer einer Kolonie. Man bot ihnen an, dorthin zu ziehen, aber ihre Toten zurücklassen und weggehen kam für sie nicht in Frage, sie wollten bleiben.
    Als Erch Feldman und Shneidel Milstein im Jahr darauf heirateten, stand die von ihnen mitgegründete Kolonie Moisés Ville bereits unter der Schirmherrschaft von Baron Hirsch. Dort schrieben sie ihre Töchter Micaela und Rivka ins Standesregister ein.
    Was für eine Ironie, dass ein Friedhof den Fortbestand von Moisés Ville gesichert hatte. Für uns Kinder, die wir mit den ganzen Geschichten von Pogromen, Verfolgung und Angst aufwuchsen, war Moisés Ville gleichbedeutend mit Leben, mit Freiheit.
    Wir spielten Indianer und Fangen. Wir hatten das Kinderspiel an unsere Geschichte angepasst. Ich weiß nicht, welches von uns Kindern – vielleicht war ich selbst es – dieses Spiel erfunden hatte, das uns in jenen Jahren zwischen Glyzinien und Wiesen so viel Vergnügen bereitet hat: Wer von einem anderen abgeklatscht wurde kam in ein russisches Gefängnis, wer befreit wurde konnte das Schiff nach Argentinien nehmen.
    »Frei für alle«, rief ich, und damit waren alle Kinder aus den Pogromen erlöst und für alle Zeiten in das Glück von Moisés Ville entlassen.
    Damals wusste ich noch nicht, dass ich mein Leben lang »Frei für alle« rufen würde.

4. Kapitel
Sigüenza, September–Oktober 1936
    Am Abend, nach dem ganzen Hin und Her, vom Haus des POUM zum Bahnhof von Sigüenza, dem Panzerzug, der ihnen nur wenig Munition gebracht hatte, dem Maschinengewehrfeuer, das sie bei ihrer Rückkehr überrascht hatte, fiel Mika wie erschlagen auf ihre Pritsche. Der Alptraum, der sie heimgesucht hatte, seit sie zwanzig Jahre alt war, war nicht wiedergekommen. Und auch kein anderer. Schlafen war Eintauchen in den ersehnten Brunnen des Vergessens, sich Zurückziehen ins Nichts. Ohne Bilder, ohne Töne.
    Jemand rüttelte an ihr, wollte sie aus dem Schlaf reißen, und sie hielt hartnäckig die Augen geschlossen. Aber der Mann ließ nicht locker.
    »Warum weckst du mich? Was ist los?«
    »Ich habe eine Stunde länger Wache gestanden, Pablo sollte mich ablösen, aber er schläft, er denkt nicht dran aufzuwachen. Er ist dreist, ein Drückeberger, du musst ihn wecken.«
    Mit derselben Rage, mit der sie aus dem Bett gefahren war, stellte sie sich vor die Matratze und brüllte seinen Namen: Pablo, Pablo. Der Mann stellte sich schlafend, drehte sich um, da packte sie ihn mit der Linken an den Haaren, und verpasste ihm mit der Rechten eine Ohrfeige und noch eine. Der Extremadurer starrte sie entgeistert an. Mika hatte ebensolche Angst wie er, wenn nicht mehr, sie verstand selbst nicht, welche dunkle Macht in ihr diesen Gewaltausbruch ausgelöst hatte. Er wird mich schlagen, zu Recht, dachte sie, als sie seinen Schopf los ließ. Doch nein, Pablo nahm sein Gewehr, das der Compañero schon bereithielt, und zog ab auf seinen Wachposten.
    Danke, Compañera, sagte der Milizionär zu ihr, der sie um seines eigenen Anliegens willen aus dem Schlaf gerissen hatte. Das also erwarteten sie von Mika: Autorität.
    War es damals, Mika? In dieser Haltung, diesem beherzten Handeln zeichnete sich bereits ab, wofür du später mit der Ernennung zur Capitana die verdiente Anerkennung bekommen solltest. Seltsam, dachte sie, dass dieser mürrische Mann ihre Maßregelung hingenommen hatte. Pablo wankte nur ein wenig, das war nicht weiter schlimm. Mika duldete so etwas nicht. Es brachte sie auf die Palme.
    Als sie Baquero, den Einzigen, der sich aufs Morsen verstand, am Bahnhof in Sigüenza auf einem Mantel liegend im Tiefschlaf antraf, ging mit ihr ebenfalls die Wut durch.
    Madrid hatte angekündigt, um fünf eine Nachricht zu senden, also in wenigen Minuten. Mika bearbeitete ihn mit Fußtritten, keine Reaktion.
    »Du hättest ihn wecken müssen, Juan«, sagte sie zu Laborda, der dabeistand.
    »Wie denn. Er ist wie erschlagen.«
    »Schnell, bring einen Kübel Wasser.«
    Sie mussten Baquero auf die Bank legen und ihm kaltes Wasser über den Kopf schütten, damit er sich rührte. Mika hatte nicht einen Hauch Mitleid mit ihm.
    Der Marseiller, der französische Hafenarbeiter, der die Kolonne der CNT befahl, platzte mitten in das Geschrei und die Wasserschlacht herein. Sie kannten sich nicht. Lächelnd gab
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