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Die Capitana - Roman

Die Capitana - Roman

Titel: Die Capitana - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Gebäude getragen wurde, wo sie verbrannt werden sollte. Da hieß es auf einmal, jemand müsse mit hineinkommen, und Conchita sprang vor: ich komme mit, und niemand hatte Einwände. Ausgerechnet sie, der schon die Vorstellung, allein mit einem Toten zu sein, den Schlaf raubte, begleitete Mikas Leib zu den Flammen.
    » Un moment «, bat sie den Mann und hob die Hand, während sie mit der anderen in der Tasche nach dem Zettel suchte.
    Vielleicht blieb er dort auf dem Boden liegen, vielleicht wurde er ebenfalls Opfer der Flammen. Conchita benötigte ihn nicht, von einer unbekannten Kraft gelenkt, hob sie die rechte Hand und zeichnete das Kreuz in die Luft, und ihre Stimme klang dabei deutlich und klar:
    »Ich segne dich, Mika, ruhe in Frieden.«
    Stunden später verließen Guy Prévan und seine Frau Ded Dinouart im Schutz der Abenddämmerung das Haus. Am Hôtel de Ville stiegen sie in die Metro. Guy trug die Tasche mit der Urne, keiner der Fahrgäste schöpfte Verdacht.
    Als sie am Quai aux Fleurs ankamen, war es schon dunkle Nacht. Ded hielt sich am Arm ihres Mannes fest, und zusammen stiegen sie die Treppe hinunter zum Wasser. Das junge Paar, das ihnen entgegenkam, war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um stehen zu bleiben und sie bei ihrem Tun zu beobachten, trotzdem warteten sie ab, bis die beiden ein Stück weitergegangen waren. Es musste alles so unauffällig wie möglich geschehen, denn schließlich überschritten sie das Gesetz. Als weit und breit niemand zu sehen war, nahm Guy die Urne aus der Tasche, öffnete sie und streute Mikas Asche in die Seine. Ded warf die Lilien aus Mikas Garten in Périgny eine nach der anderen aufs Wasser.
    Vollständig verschwinden, das war ihr Wunsch gewesen. So wie Hippolytes Körper verschwunden war.
    »Jetzt sind sie vereint«, sagte Ded, »vereint in der Unermesslichkeit, dem Unbekannten.«
    » Dans le néant «, sagte Guy. »Eine schöne Art und Weise, nach so vielen Jahren wieder zusammenzufinden.«

3. Kapitel
Moisés Ville, 1902
    Guy Prévan schrieb nach meinem Tod, im Juli 1992, in Le Monde : »Als Revolutionärin der ersten Stunde, Antifaschistin und Antistalinistin blieb sie immer ihrem Weg treu, den sie eingeschlagen hatte, als sie noch fast ein Kind war.« Womit er recht hatte, denn schon in Moisés Ville, der jüdischen Kolonie in Argentinien in der Provinz Entre Ríos, wo ich im März 1902 geboren wurde, träumte ich beim Himmel-und-Hölle-Spiel davon, wie ich es diesen schlechten Menschen heimzahlen würde, die meiner Familie und unseren Nachbarn so großes Leid angetan hatten. Die Revolution begleitete mich seit jeher in meinem Leben. Ich wuchs mit den Schriften der vor den Pogromen und den Gefängnissen des zaristischen Russlands geflohenen Revolutionären auf.
    Jahre später, als ich schon in Frankreich lebte und wir uns in dem Haus in Périgny mit entschlossenen Revolutionären aus verschiedenen Ländern versammelten, fühlte ich mich nicht viel anders. Die Personen und die Orte wechselten, aber der Kampf für die Revolution ging immer weiter.
    Die Milsteins, die Familie meiner Mutter, gehörten zu einer Gruppe ukrainischer Juden, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Flucht ergriffen, weil sie die schrecklichen Lebensbedingungen nicht länger ertragen wollten. Sie mussten in Ghettos wohnen, hatten weder Zugang zu einer würdigen Arbeit noch zum kulturellen Leben, wurden verleumdet, verachtet, grausam verfolgt, gefoltert, eingesperrt. Dank der argentinischen Einwanderungspolitik standen ihnen alle Türen offen, und sie kauften, mit großen Erwartungen, über den argentinischen Konsul Land. Das Programm sah vor, sie zu Landwirten zu machen, obwohl viele von ihnen, so auch meine Vorfahren, keinerlei Erfahrung in der Landwirtschaft hatten.
    Massaker, Gefängnisse, Verfolgungen, das alles blieb zurück, als die 136 Familien, ihre Hoffnung zur gemeinsamen Sache machend, auf den Ozeandampfer Weser stiegen, der sie im Jahr 1889 nach Argentinien brachte.
    Die Überfahrt dauerte anderthalb Monate. Erch Feldman und Shneidel Milstein, meine Eltern, haben sich auf dem Schiff ineinander verliebt.
    Meine Großmutter Sima erzählte uns, wie man die beiden eines Nachts auf dem Deck der Weser bei einem Kuss erwischt hatte. Großer Skandal. Meine Mutter war noch ein Kind, sie hatte sich aus ihrer Kajüte bei den Frauen geschlichen, um sich mit meinem Vater zu treffen, einem schlacksigen Achtzehnjährigen, der ein Leben in Elend und Ungerechtigkeit nicht hatte hinnehmen
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