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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies
Autoren: Umberto Eco
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sollte
    man es dann nicht auch mit vorhandenen literarischen
    Texten probieren, indem man Programme entwickelt, mit
    denen man jene großen Geschichten verändern kann, die
    uns zum Teil seit Jahrtausenden beschäftigen?
    Bedenken wir nur, wir haben mit glühenden Wangen
    Krieg und Frieden gelesen und uns mit banger Sorge
    gefragt, ob Natascha den Schmeicheleien Anatols
    schließlich erliegen wird, oder ob Pierre den Mut haben
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    wird, auf Napoleon zu schießen, und nun könnten wir uns
    endlich unseren Tolstoi nach eigenem Gusto herrichten,
    wir könnten Andrej ein langes glückliches Leben
    schenken und Pierre zum Befreier Europas machen, und
    damit nicht genug, wir könnten auch Emma Bovary
    wieder mit ihrem armen Charles versöhnen, als glückliche
    und zufriedene Mutter, wir könnten beschließen, daß
    Rotkäppchen in den Wald geht und dort Pinocchio trifft,
    oder daß es von der Stiefmutter entführt und als Sklavin
    nach Amerika verkauft wird, wo es dann unter dem
    Namen Aschenbrödel im Haushalt der Scarlett O’Hara
    schuftet, oder daß es im Wald einem freundlichen Herrn
    namens Wladimir Propp begegnet, der ihm einen
    Zauberring schenkt, mit dessen Hilfe es dann an den
    Wurzeln des heiligen Banyan der Thugs das Aleph
    entdeckt, jenen Punkt, von dem aus man das ganze
    Universum sehen kann, im Vordergrund Anna Karenina,
    die nicht unter dem Zug stirbt, weil die russischen
    Eisenbahnen mit verringerter Spurweite unter der
    Regierung Putin noch schlechter als die U-Boote
    funktionieren, und ganz hinten, noch hinter Alicens
    Spiegel, Jorge Luis Borges, der den armen Funes el
    memorioso daran erinnert, er solle bitte sehr nicht
    vergessen, Krieg und Frieden in die Bibliothek von Babel zurückzubringen …
    Wäre das schlecht? Nein, denn auch dies hat die
    Literatur schon gemacht, und zwar lange vor der
    Erfindung des Hypertexts, nämlich mit Mallarmés Projekt
    seines Livre , mit den erlesenen Leichen der Surrealisten, mit den Milliarden Sonetten von Queneau oder den
    mobilen Büchern der zweiten Avantgarde. Und dies ist es
    auch, was die Jam Session im Jazz macht. Aber daß es die
    Praxis der Jam Session gibt, die den Gang eines Themas
    Abend für Abend verändert, entbindet uns nicht davon und
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    hält uns auch nicht davon ab, in Konzerte zu gehen, wo
    Chopins b-moll-Sonate op. 35 jedesmal auf dieselbe Art
    endet.
    Jemand hat gesagt, durch das Spiel mit den
    Mechanismen des Hypertexts entgehe man zwei Formen
    der Repression, dem Gehorsam gegenüber fremd-
    bestimmten Abläufen und der Verurteilung zur gesell-
    schaftlichen Trennung zwischen denen, die schreiben, und
    denen, die lesen. Ich halte das für Unsinn, aber sicher kann
    das kreative Spiel mit Hypertexten, indem es die
    bekannten Geschichten verändert und zur Erfindung neuer
    beiträgt, eine faszinierende Tätigkeit sein, eine schöne
    Übung in der Schule, eine neue Form des Schreibens, sehr
    ähnlich der Jam Session. Sicher kann es schön und auch
    lehrreich sein, sich im Verändern von bekannten Ge-
    schichten zu üben, so wie es interessant wäre, Chopin für
    Mandoline zu transkribieren: Es würde dazu dienen, das
    musikalische Empfinden zu schärfen und zu verstehen,
    warum der Klang des Klaviers so wesentlich für die
    b-moll-Sonate ist. In gleicher Weise kann es zum
    kritischen Sehen und zur Erkenntnis der Formen erziehen,
    wenn man Collagen aus Fragmenten von Raffaels
    Vermählung der Jungfrau , Picassos Demoiselles d’Avig-non und der neuesten Pokémon-Geschichte zusammen-
    montiert. Genau besehen haben das viele große Künstler
    getan.
    Aber solche Spiele ersetzen nicht die wahre
    Erziehungsfunktion der Literatur, die sich nicht auf die
    Transmission moralischer Ideen, ob guter oder schlechter,
    oder auf die Bildung des Sinns für das Schöne beschränkt.
    Jurij Lotman zitiert in seinem Buch Kultur und
    Explosion den berühmten Satz von Tschechow, dem
    zufolge, wenn in einer Erzählung oder einem Drama zu
    Beginn ein Gewehr an der Wand hängt, mit diesem
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    Gewehr vor dem Ende geschossen werden muß. Lotman
    gibt uns zu verstehen, daß es nicht darum geht, ob dann
    wirklich mit ihm geschossen wird. Gerade daß man nicht
    weiß, ob mit dem Gewehr am Ende geschossen wird oder
    nicht, verleiht ihm Bedeutung. Eine Erzählung lesen heißt
    auch, sich von einer Spannung ergreifen lassen, von einem
    Fieber. Die Entdeckung am Ende, daß mit dem Gewehr
    geschossen worden ist oder nicht, hat nicht bloß den Wert
    einer simplen Nachricht. Es
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