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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies
Autoren: Umberto Eco
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Stalin einmal gefragt, wie viele
    Divisionen der Papst besitze. Was in den Jahrzehnten
    seither geschehen ist, hat uns bewiesen, daß Divisionen
    unter bestimmten Umständen sicher wichtig sind, aber
    nicht alles. Es gibt immaterielle Mächte, die sich nicht
    nach Gewicht messen lassen, aber sehr wohl ins Gewicht
    fallen.
    Wir sind umgeben von immateriellen Mächten, die sich
    nicht auf jene beschränken, die wir die geistigen Werte
    nennen, wie zum Beispiel religiöse Doktrinen. Eine
    immaterielle Macht ist auch die der Quadratwurzeln, deren
    strenges Gesetz die Jahrhunderte und nicht nur die Dekrete
    Stalins, sondern selbst die des Papstes überlebt hat. Und
    zu diesen Mächten würde ich auch die der literarischen
    Überlieferung rechnen, soll heißen: die der Gesamtheit
    von Texten, welche die Menschheit nicht zu praktischen
    Zwecken (wie um Register zu führen, Gesetze und
    wissenschaftliche Formeln zu kommentieren, Sitzungen zu
    protokollieren oder Fahrpläne aufzustellen), sondern
    gratia sui , um ihrer selbst willen hervorgebracht hat und weiter hervorbringt – und die man zum Vergnügen, zur
    geistigen Erhebung, zur Erweiterung der Kenntnisse oder
    auch bloß zum Zeitvertreib liest, ohne daß einen

    1 Vortrag auf einem Schriftstellerfestival in Mantua, September 2000. Dann abgedruckt in der Zeitschrift Studi di estetica Nr. 23, 2001.
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    irgendwer dazu zwingt (wenn man einmal von den
    schulischen Zwängen absieht).
    Es stimmt zwar, daß die literarischen Objekte nur zur
    Hälfte immateriell sind, da sie sich in Vehikeln ver-
    körpern, die gewöhnlich aus Papier bestehen. Aber einst
    verkörperten sie sich in der Stimme dessen, der eine
    mündliche Überlieferung weitergab, oder in Stein ge-
    meißelt, und heute diskutieren wir über die Zukunft der
    e-books , die uns erlauben sollen, sowohl eine Sammlung von Witzen wie auch die Göttliche Komödie auf einem
    Bildschirm aus Flüssigkristallen zu lesen. Ich will gleich
    klarstellen, daß ich hier nicht die Absicht habe, mich mit
    der vexata quaestio des elektronischen Buches zu
    beschäftigen. Ich gehöre naturgemäß zu denen, die es
    vorziehen, einen Roman oder ein Gedicht in einem Band
    aus papierenen Seiten zu lesen, von denen ich sogar noch
    die Eselsohren und die zerknitterten Stellen in Erinnerung
    behalte, aber wie ich höre, gibt es eine digitale Generation
    von Hackern, die in ihrem Leben noch nie ein Buch
    gelesen haben und nun durch das e-book zum ersten Mal in die Nähe und den Genuß des Don Quijote gekommen
    sind. Soviel Gewinn für ihren Geist, soviel Verlust für ihre
    Augen. Wenn es den künftigen Generationen gelingt, ein
    gutes Verhältnis (psychisch und physisch) zum e-book zu entwickeln, wird sich an der Macht des Don Quijote nichts ändern.
    Wozu dient das immaterielle Gut, das die Literatur
    darstellt? Es würde genügen zu antworten, wie ich es
    schon getan habe, daß sie ein Gut ist, welches um seiner
    selbst willen konsumiert wird und daher zu nichts dienen
    muß. Aber eine so körperlose und abgehobene Sicht des
    literarischen Vergnügens liefe Gefahr, die Literatur auf
    etwas wie Jogging oder das Lösen von Kreuzworträtseln
    zu reduzieren – Tätigkeiten, die überdies beide zu etwas
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    dienen, die eine zur Leibesertüchtigung und die andere zur
    Erweiterung des Wortschatzes. Was ich hier behandeln
    möchte, ist daher eine Reihe von Funktionen, welche die
    Literatur für unser individuelles Leben und für das der
    Gesellschaft erfüllt.
    Zunächst einmal hält Literatur die Sprache als
    kollektives Erbe lebendig. Die Sprache geht per definitionem , wohin sie will, kein Dekret von oben, weder von selten der Politik noch einer Akademie, kann ihren Gang
    aufhalten und sie zu Positionen umleiten, die man für
    besser hält. Der Faschismus hat sich bemüht, uns mescita
    statt bar sagen zu lassen, coda di gallo statt cocktail , rete statt goal und auto pubblica statt taxi , aber die Sprache ist ihm nicht gefolgt. Dann hat er eine lexikalische
    Monstrosität vorgeschlagen, einen inakzeptablen Archais-
    mus wie autista anstelle von chauffeur , und die Sprache hat ihn akzeptiert. Vielleicht weil sie damit einen im
    Italienischen fremden Laut vermeiden konnte. Sie hat das
    Wort taxi behalten, aber sie hat es allmählich, zumindest in der gesprochenen Sprache, zu tassi werden lassen.
    Die Sprache geht, wohin sie will, aber sie ist
    empfänglich für die Anregungen der Literatur. Ohne
    Dante hätte sich kein gemeinsames Italienisch
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