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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies
Autoren: Umberto Eco
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gebildet.
    Als Dante in seiner Schrift De vulgari eloquentia die
    verschiedenen italienischen Dialekte analysierte und
    verwarf und sich vornahm, ein volgare illustre zu
    schaffen, eine veredelte italienische Volkssprache, hätte
    niemand einen roten Heller auf einen solchen Akt des
    Hochmuts gewettet, und doch hat er mit der Divina
    Commedia das Spiel gewonnen. Gewiß hat Dantes
    »illustre Mundart« mehrere Jahrhunderte gebraucht, um
    eine von allen gesprochene Sprache zu werden, aber wenn
    es ihr schließlich gelungen ist, dann deshalb, weil die
    Gemeinschaft der an die Literatur Glaubenden sich
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    während der ganzen Zeit an jenes Modell gehalten hatte.
    Und wenn es jenes Modell nicht gegeben hätte, wäre
    vielleicht auch die Idee einer politischen Einheit nicht zum
    Durchbruch gekommen. Vielleicht ist das der Grund,
    warum Bossi kein volgare illustre spricht.2
    Zwanzig Jahre voll schicksalhafter Höhen, unabänder-
    licher Bestimmungen, unvermeidlicher Geschehnisse und
    unermüdlich die Scholle furchender Pflüge haben am
    Ende keine Spur im geläufigen Italienisch hinterlassen,
    viel weniger jedenfalls als manche zu ihrer Zeit
    inakzeptablen Kühnheiten der futuristischen Prosa. Und
    wenn heute jemand den Triumph eines durch das
    Fernsehen verbreiteten Durchschnittsitalienisch beklagt,
    dann sollten wir nicht vergessen, daß der Appell zu einem
    Durchschnittsitalienisch in seiner edleren Form durch die
    klare und akzeptable Prosa eines Manzoni und dann eines
    Svevo oder Moravia gegangen ist.
    Indem die Literatur dazu beiträgt, die Sprache zu
    formen, schafft sie Identität und Gemeinschaft. Ich habe
    von Dante gesprochen, aber bedenken wir nur, was die
    griechische Zivilisation ohne Homer gewesen wäre, die
    deutsche Identität ohne die Tradition der Lutherbibel, die
    russische Sprache ohne Puschkin, die indische Kultur ohne
    ihre Gründungsepen.
    Der Umgang mit Literatur hält aber auch unsere
    individuelle Sprache lebendig. Viele beklagen heute die
    Geburt eines neuen Telegrammstils, der sich durch die
    Praxis der E-Mails und die Kurzbotschaften der Mobil-
    telefone aufdrängt, in denen man selbst »Ich liebe dich«
    mit einem Kürzel schreiben kann; aber vergessen wir

    2 Seitenhieb auf Umberto Bossi, den Gründer und Chef der
    separatistischen Lega Nord (A. d. Ü.).
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    nicht, daß die Jugendlichen, die einander Botschaften in
    dieser neuen Kurzschrift senden, zumindest teilweise
    dieselben sind, die jene neuen Kathedralen des Buches
    füllen, als welche sich die großen mehrgeschossigen
    Buchhandlungen darstellen, und die, selbst wenn sie die
    Bücher nur durchblättern und nicht kaufen, mit
    kultivierten und elaborierten literarischen Stilen in
    Berührung kommen, denen ihre Eltern und mit Sicherheit
    ihre Großeltern niemals ausgesetzt waren.
    Gewiß können wir sagen, daß diese Jugendlichen, eine
    Mehrheit im Verhältnis zu den Lesern früherer
    Generationen, nur eine Minderheit im Verhältnis zu den
    sechs Milliarden Erdbewohnern sind, und ich bin auch
    nicht so idealistisch zu glauben, daß den riesigen Massen,
    denen es an Brot und Medikamenten gebricht, aus-
    gerechnet die Literatur Erleichterung bringen könnte. Aber
    eine Bemerkung möchte ich hier gerne machen: Jene
    Unseligen, die sich ziellos zusammenrotten und töten,
    indem sie Steine von Brücken werfen oder kleine Kinder
    anzünden, werden nicht, was sie sind, weil sie durch das
    Computer- Newspeak verdorben worden waren (sie haben
    gar keinen Zugang zu Computern), sondern weil sie
    ausgesperrt sind aus der Welt der Bücher und den Orten,
    an welchen sie durch Erziehung und Diskussion mit jener
    Wertewelt in Kontakt kommen könnten, die aus den
    Büchern spricht und auf die Bücher zurückverweist.
    Die Lektüre literarischer Werke zwingt uns, bei aller
    Freiheit des Interpretierens Treue und Respekt zu üben. Es
    gibt eine gefährliche Kritikermeinung, die typisch für
    unsere Tage ist, nach der man mit literarischen Werken
    machen kann, was man will, indem man alles aus ihnen
    herausliest, was unsere tiefsten Triebe uns nahelegen. Das
    ist falsch. Literarische Werke laden uns ein, sie frei zu
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    interpretieren, insofern sie uns einen Diskurs mit mehr als
    nur einer Lesart vorsetzen und uns mit den Mehr-
    deutigkeiten sowohl der Sprache als auch des Lebens
    konfrontieren. Doch um in diesem Spiel weiterzukommen,
    in dem jede Generation die literarischen Werke anders
    liest, muß man von einem tiefen Respekt vor dem erfüllt
    sein,
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