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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies
Autoren: Umberto Eco
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wo sie geblieben sein mag, ist für die Erzählung
    irrelevant. Dagegen treibt in Armance das Nichtgesagte über die mögliche Impotenz des Helden den Leser zu
    wilden Hypothesen, mit denen er sich ergänzt, was die
    Erzählung ungesagt läßt, und in den Promessi Sposi läßt ein Satz wie »la sventurata rispose«3 offen, wie weit
    Gertrude in ihrer Sünde mit Egidio gegangen ist, aber die
    düstere Aura der Vermutungen, die dem Leser dadurch

    3 »Die Unglückselige antwortete«: Anspielung auf die berühmte und vielkommentierte Stelle in Alessandro Manzonis jedem italienischen Schulkind bekannten (wenn auch eben deshalb verhaßten) Roman, in der die künftigen Untaten der Nonne von Monza gerade durch ihr Verschweigen um so schlimmer erscheinen, vgl.
    A. Manzoni, Die Brautleute , Hanser 2000, Kap. 10, S. 236, und Anm. S. 878 (A. d. Ü.).
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    nahegelegt werden, ist Teil der Faszination dieser so
    schamhaft elliptischen Seite.
    Am Anfang der Drei Musketiere lesen wir, daß
    d’Artagnan am ersten Montag des Monats April 1625 auf
    einem vierzehn Jahre alten Klepper in Meung ankam. Wer
    ein geeignetes Programm in seinem Computer hat, kann
    rasch feststellen, daß jener Montag der 7. April gewesen
    sein muß. Ein Leckerbissen für trivia games unter Dumas-Fans. Kann man nun aber auf dieses Datum eine Meta-
    Interpretation des Romans gründen? Ich denke nicht, denn
    der Text mißt diesem Datum keine weitere Bedeutung bei,
    er macht es nicht relevant. Der weitere Verlauf des
    Romans macht nicht einmal relevant, daß d’Artagnan an
    einem Montag eingetroffen ist – während der Umstand,
    daß es April war, durchaus Relevanz hat (erinnern wir uns:
    um zu verbergen, daß sein prächtiges Wehrgehänge nur
    vorn bestickt war, trug Porthos einen langen karmesin-
    roten Samtmantel, den die Jahreszeit nicht rechtfertigte, so
    daß der Musketier eine Erkältung vortäuschen mußte).
    Solche Dinge mögen für viele von uns Selbstverständ-
    lichkeiten sein, aber an diesen Selbstverständlichkeiten
    (die oft übersehen werden) wird deutlich: Die Welt der
    Literatur hat es an sich, uns darauf vertrauen zu lassen,
    daß es in ihr eine Reihe von unanfechtbaren, nicht in
    Zweifel zu ziehenden Aussagen gibt, mit anderen Worten,
    daß sie uns ein – wie immer auch imaginäres – Modell der
    Wahrheit vorsetzt. Und diese literarische Wahrheit strahlt
    auch auf jene aus, die wir die hermeneutischen Wahr-
    heiten nennen: Würde jemand behaupten, d’Artagnan
    werde von einer homosexuellen Leidenschaft für Porthos
    getrieben, oder der Ungenannte bei Manzoni sei durch
    einen tief sitzenden Ödipuskomplex zum Bösen verleitet
    worden, oder die Nonne von Monza sei – wie gewisse
    Politiker heute insinuieren könnten – vom Kommunismus
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    verdorben worden, oder Panurge tue das, was er tut, aus
    Abscheu gegen den aufkommenden Kapitalismus, so
    könnten wir jedesmal entgegnen, daß in den betreffenden
    Texten keinerlei Aussage oder Andeutung oder Insinua-
    tion zu finden ist, die uns zu derlei interpretatorischen
    Abwegigkeiten ermächtigt. Die Welt der Literatur ist ein
    Universum, in dem man Tests machen kann, um
    festzustellen, ob ein Leser noch Sinn für die Realität hat
    oder bereits seinen Halluzinationen zum Opfer gefallen ist.
    Literarische Figuren wandern. Wir können wahre Aus-
    sagen über sie machen, weil das, was ihnen widerfährt, in
    einem Text aufgezeichnet worden ist, und ein Text ist wie
    eine musikalische Partitur. Daß Anna Karenina Selbst-
    mord begeht, ist ebenso wahr wie daß Beethovens Fünfte
    in c-moll steht (und nicht in F-Dur wie die Sechste) und
    daß sie mit g-g-g-es anfängt. Manchen literarischen
    Figuren – nicht allen – passiert es jedoch, daß sie aus dem
    Text, in dem sie geboren sind, heraustreten, um in eine
    Region des Universums zu wandern, die sich schwer
    eingrenzen läßt. Wenn sie Glück haben, wandern sie von
    Text zu Text, und wenn sie das nicht tun, liegt es nicht
    daran, daß sie von anderer Wesensart wären als ihre
    glücklicheren Geschwister; sie haben nur einfach kein
    Glück gehabt, und wir haben uns nicht mehr mit ihnen
    beschäftigt.
    Von Text zu Text gewandert (und durch Anpassung an
    verschiedene Substanzen von Buch zu Film oder auch zu
    Ballett oder von mündlicher Überlieferung in geschriebene
    Texte) sind sowohl Personen der Mythologie als auch
    solche der »weltlichen« Erzählliteratur wie Odysseus/
    Ulysses, Jason, Artus, Parzival, Alice, Pinocchio,
    d’Artagnan usw. Wenn
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