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Die Bucht des grünen Mondes

Die Bucht des grünen Mondes

Titel: Die Bucht des grünen Mondes
Autoren: Isabel Beto
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Oliveira das Opernglas. «Sie haben sich nicht getäuscht, Senhorita. Es ist ein Alligator.»
    Wieder hielt das Schiff auf seinen Wink hin aufs Ufer zu. Dieses Mal jedoch verging viel Zeit – das fremde Boot verließ nur zögernd sein schützendes Versteck. Doch schließlich tauchte die Eingeborene das Paddel ins Wasser; der kleine aufragende Bugsteven teilte den Teppich aus schwimmenden Blättern. Tatsächlich war es eine Frau, die aus dem Schatten der Bäume in die Sonne fuhr.
    Aus dunklen Augen musterte sie das so viel größere Gefährt. Schwarze Zöpfe umspielten ihre Oberarme. Sie war von schlaksiger Gestalt; jede Rippe ließ sich zählen. Ihre Miene war verschlossen; sie entblößte die Zähne, als wolle sie das Schiff anfauchen. Trotz der Entfernung, trotz des Rasselns der Dampfmaschine atmete Amely flach und stand ganz still.
Alles ist so anders als damals im Zoologischen Garten
, dachte sie.
Es war nicht einmal ein Abbild. Es war … nichts
.
    «Ich kann ihre Dinger sehen.» Bärbel senkte ihre Stimme zu einem aufgeregten Flüstern. «Ihre Brustwarzen!»
    Ronaldo hatte ein Messer gebracht, das Oliveira nun hochhielt. Die Indiofrau paddelte näher heran. Kein Wort fiel; allein spärliche Gesten besiegelten den Handel. Ronaldo stieg hinab ins Kanu und lud sich den mit Schnüren umwickelten Kadaver auf den Rücken. Als Gegenleistung warf Oliveira das Messer hinunter. Die Frau zog es aus der Scheide und prüfte es, indem sie einen Holzspan aus dem Kanu schnitzte. Die Klinge schien ihren Vorstellungen zu entsprechen. Ihr kühler, nein, verächtlicher Blick streifte Amely, dann stieß sie das Paddel ins Wasser und wendete.
    «Sie war so schmal gebaut.» Amely betrachtete das zwei Meter lange Reptil. «Kaum zu glauben, dass sie dieses Vieh getötet hat. Was geschieht damit? Ist das eine Trophäe?»
    «Aber nein.» Herr Oliveira schmunzelte. «Der Schwanz ist eine vorzügliche Delikatesse. Wir haben portugiesischen Rotwein an Bord, der passt hervorragend dazu.»
     
    Er hob sein Glas. «Willkommen am Amazonas. Habe ich schon erzählt, wie der Fluss zu seinem Namen kam? Gonzalo Pizarro, ein Bruder des berühmten Inka-Eroberers Francisco, suchte anno 1541 das sagenhafte Eldorado. Er kam über die Anden, ohne jede Ahnung, wie groß der Kontinent ist. Eldorado fand er nicht, aber der Konquistador wollte wenigstens eine Indiofrau nach Spanien mitnehmen. Doch das Frauengrüppchen, das seine Truppe aufstöberte, wehrte sich mit Waffengewalt. So benannte er den Fluss nach den Amazonen der griechischen Mythologie.»
    «Nach dem, was wir gerade gesehen haben, scheint mir die Legende wahr zu sein», erwiderte Amely. Eine Frau hatte einen Alligator erlegt – mit Pfeil und Bogen! Und beinahe noch phantastischer: Das Fleisch war das wohlschmeckendste, das sie je gegessen hatte. Dazu hatte es Feijoada gegeben, einen Eintopf aus Bohnen, Räucherwürstchen, Rinderzunge, brasilianischem Pfeffer und vielem mehr. Liebend gerne wäre sie unter Deck gegangen, um das Korsett etwas zu lockern. Bärbel hingegen hatte ihren Porzellanteller nicht angerührt.
    Sie saßen an Deck, unter einem Strohdach, von dem rundum ein Moskitonetz hing. Amely mochte die Mücken beinahe, denn sie waren das Einzige, das in dieser Welt halbwegs vertraut wirkte – schließlich war man auch bei sommerlichen Ausflügen auf dem Wannsee reichlich von ihnen heimgesucht worden. Allerdings waren die hiesigen Mücken größer und lauter. Gemächlich glitt die
Amalie
durch die Strömung, zwischen Inselchen hindurch, vorbei an den dichtbelaubten Ufern, wo schimpfende Affen von Ast zu Ast sprangen, um das Schiff ein Stück zu begleiten. Ronaldo sorgte mit einem großen Strohfächer für einen angenehmen Luftzug, und ein Steward tischte eine Platte mit kleingeschnittenen Kürbissen, Limetten, Bananen und gänzlich fremden Früchten auf.
    Amely fragte sich, wann sie sich zuletzt so wohl gefühlt hatte. Ganz sicher nicht seit jenem Moment, als ihr Vater sie zu dieser unglaublichen Wendung ihres Lebens gezwungen hatte. Immer noch musste sie träumen, anders war das nicht zu erklären. Und dieser Traum hatte Bilder und Farben angenommen, die es in Wahrheit gar nicht geben konnte.
    Die erste Woche ihrer Atlantiküberfahrt hatte sie nur in ihrer Kabine verbracht, hatte auf dem Bett gelegen und geheult. In der zweiten war sie zu dem Schluss gekommen, dass ihr nichts anderes blieb, als ihr Schicksal anzunehmen. Und dann, irgendwann während der letzten Tage der Überfahrt,
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