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Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie

Titel: Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
Autoren: Patrick Graham
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Jahre lang hatte sie nicht von ihr geträumt. Inzwischen war sie sicher, dass sie wieder einem Mörder auf der Spur war, wenn dessen Opfer abermals in ihren Visionen auftauchten. Sie wusste, dass deren Peiniger nicht fern war und sie nie so kurz davor gestanden hatte, ihn zu fassen. Also nahm sie sich die Akte erneut vor und rollte den Fall von Anfang an wieder auf.

    Die Polizei aller Länder der Erde schickte Berichte über besonders gewalttätige Verbrechen, mit deren Aufklärung sie nicht recht weiterkam, an eine Zentrale der amerikanischen Bundespolizei FBI, in dem die Elite der als »Profiler« bezeichneten Fallanalytiker die Vorgehensweise von Tätern genauestens unter die Lupe nahm. Als eine Woche zuvor auf den Überwachungsbildschirmen dieses Zentrums erneut ein Mordfall mit dem Hinweis »border crime« aufgetaucht war, hatte Maria wieder die Spur des Mannes aufnehmen können, den man beim FBI mit dem Spitznamen »Daddy« belegt hatte. Das war ein mehr als sonderbarer Name für jemanden, der Kinder verschleppte, nachdem er deren Eltern umgebracht hatte.
    »Maria? Sind Sie noch da?«
    Aus den Akten ging hervor, dass Daddy im Dezember 1987 erneut angefangen hatte zu morden, und zwar in Boston. Seine Opfer waren die Angehörigen der Kleinen aus Marias Vision. Zweifellos tauchte das Kind deshalb als Einzige immer wieder in Marias nächtlichen Albträumen auf. Obwohl die Polizei Daddy bereits seit achtzehn Jahren zu fassen versuchte, hatte er sich einer Festnahme bisher entziehen können. 1989 schien er mit den Morden aufgehört zu haben, doch wurden ab 1992 aus anderen Ländern Fälle bekannt, die eindeutig seine Handschrift trugen. Maria jagte ihn schon seit über zehn Jahren. Jedes Mal, wenn ihre Visionen sie wieder heimsuchten, machte sie sich erneut auf, und jedes Mal entkam er ihr. Er zog viel umher, wechselte immer wieder seine Identität und tauchte in den verschiedensten Ländern auf. Nach einer Unterbrechung von einigen Monaten hatte er wieder getötet, diesmal in Berlin. Damit hatte er die erneute Fahndung ausgelöst. Alles lief immer nach demselben Muster ab. Maria hatte seine Fährte bis nach Rio verfolgt. Diesmal, davon war sie überzeugt, würde die Jagd ein Ende haben.

    »Hören Sie mich?«
    »Ja.«
    »Sagen Sie mir, was an jenem Abend geschehen ist, als Sie eingeschlafen sind, während Sie auf den Beginn Ihrer Geburtstagsfeier warteten.«
    Maria spürt mit einem Mal Eiseskälte und Entsetzen in den Adern. Sie taucht tief in ihre Vision ein. Sie hört das Ticken der Standuhr in der Diele. Das Knarren der Stufen im feuchten Treppenhaus. Nimmt den Geruch nach alten Tapeten, Rost und Staub wahr.
    »Ich öffne die Augen und merke, dass es im Haus sonderbar still ist. Auf meinem Wecker ist es vier Uhr morgens. Mein Geburtstag ist vorbei.«
    »Was spüren Sie?«
    »Ich bin entsetzlich wütend. Mir ist zum Weinen zumute. Ich habe Leibschmerzen.«
    »Sind Sie wütend auf Ihre Mutter?«
    »Ja.«
    »Möchten Sie sie umbringen?«
    »Es kommt mir vor, als sei sie bereits tot. Ich habe Angst, dass es sich so verhält.«
    »Dann?«
    »Ich liege auf meinem Bett und sehe zu den Staubfäden an der Zimmerdecke empor. Obwohl die Luft völlig unbewegt ist, schwingen sie hin und her wie Algen im Wasser. Ich höre die Stille im Hause. Richtige Stille ist etwas ganz Sonderbares. Damit meine ich vollkommene Stille. Man hat den Eindruck, dass sie voller abwesender Geräusche ist. Ich erinnere mich, dass in jener Nacht ein Geräusch fehlte. Eigentlich fehlten viele, aber ganz besonders eins. Das Schnarchen meines Vaters. Das Schnarchen eines Trinkers.«
    »Und dann?«
    »Ich stehe auf. Ich erinnere mich genau daran, wie
kratzig sich der Teppichboden unter meinen bloßen Fußsohlen anfühlte. Ich öffne die Tür. Der Gang liegt verlassen im Dunkeln. Ich taste mich an der Wand entlang. Das Zimmer meiner Eltern ist leer. Ein heller Fleck unten an der Treppe taucht auf und verschwindet: die blinkende Lichtergirlande des Weihnachtsbaums. Obwohl schon vor zwei Tagen Neujahr war, hat Mama ihn noch nicht hinausgeschafft. Es riecht noch ein wenig nach Harz, nach trockenen Nadeln und künstlichem Schnee. Die Sache ist ganz sonderbar.«
    »Was meinen Sie?«
    »Mama kann noch so betrunken sein – sie vergisst nie, die Lichtergirlande am Weihnachtsbaum abzuschalten, bevor sie schlafen geht. Sie hat nämlich einmal in der Zeitung gelesen, dass ein Kurzschluss genügt, um einen Tannenbaum in Brand zu stecken, wenn die Nadeln trocken
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