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Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Titel: Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Autoren: David Hair
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ruhen. Lautstark holten sie Luft, als die Frau das Ende des Dolches erreichte und in die Leere hinaustrat, wo sie etwa zwanzig Doppelschritt über ihren Köpfen auf die kaiserliche Loge zuschwebte. Wie von Sinnen schrie und bejubelte die Menge den plumpen Trick, den jeder nur halb ausgebildete Magus bewerkstelligen konnte.
    Adamus Crozier zwinkerte ihnen zu, als wolle er sagen: »Seht euch nur dieses Theater an«, aber Gyle tat, als habe er es nicht gesehen.
    Die Frau schwebte an ihnen vorbei, die Hände zum Gebet gefaltet, und ein Meer von Gesichtern folgte ihrer Bahn. Ich hoffe, sie trägt ihre beste Unterwäsche , dachte Gyle unwillkürlich, rief sich aber sofort zur Ordnung. Sich über dieses Volk lustig zu machen, und sei es nur in Gedanken, war gefährlich. Selbst in der Welt seiner eigenen Gedanken war man hier nicht sicher.
    Die Frau schwebte auf den kaiserlichen Thron zu, und der Große Kirchenvater Wurther erhob sich steif, um sie, umringt von seiner Dienerschaft, in Empfang zu nehmen.
    Die Hände immer noch in demütiger Gebetshaltung, sank die Frau auf die Knie. Die Menge jubelte und verstummte abrupt, als der Große Kirchenvater die Hand hob.
    Adamus Crozier zupfte Gyle am Ärmel. »Wollt Ihr noch mehr sehen?«, flüsterte er.
    Gyle blickte Vult an, dann schüttelte er kaum merklich den Kopf.
    »Gut«, erklärte Adamus. »Ich habe einen feinen Tropfen für uns bereitstellen lassen, und es gibt viel zu besprechen.«
    Bevor sie gingen, nahm Gyle sich noch Zeit für einen langen und eingehenden Blick auf jenen jungen Mann, dem sie morgen persönlich gegenübertreten würden. Mithilfe seiner gnostischen Sicht musterte er diesen Halbwüchsigen, der Herrscher über Millionen war, als stünde er ihm direkt gegenüber. Constants Gesicht quoll geradezu über vor Stolz, Neid und Furcht, mehr schlecht als recht verborgen hinter einer Maske aus Frömmigkeit. Er tat Gyle beinahe leid.
    Aber wie sollte man auch anders reagieren, wenn die eigene Mutter gerade in den Heiligenstand erhoben wurde?
    Am nächsten Tag konnte Gyle es in den prächtigen Palastgärten kaum erwarten, die letzten Minuten vor der Audienz hinter sich zu bringen. Wie immer war er der Außenseiter, ein Sonderling im Paradies. Er schlug seinen Kragen hoch, um den Nieselregen abzuhalten, und nahm einen etwas abseits gelegenen Weg, während seine Gedanken ganz woanders waren. Gyle fiel hier auf, weil er nicht so fein herausgeputzt war wie die anderen. In diesem Jahr waren grelle Farben in Mode, der traditionellen Kleidung auf dem östlichen Kontinent nachempfunden, und überall in den Gärten hatte er Adlige in soldatisch anmutender Kleidung gesehen. Der dritte Kriegszug stand kurz bevor, weshalb es schick war, sich zu geben wie ein Krieger, aber dennoch ließ Gyles abgewetzte Ledermontur ihn hier wie eine Krähe in einem Papageienkäfig aussehen. Er trug ein Schwert wie die anderen auch, aber seines hatte eine rasiermesserscharfe Klinge und einen abgenutzten Griff. Sein faltiges Gesicht und die von der Wüstensonne tiefbraun gegerbte Haut ließen ihn bedrohlich aussehen unter den blassen Menschen des Nordens. So verweichlicht und affektiert sie auch aussahen, versuchte Gyle doch lieber, ihnen aus dem Weg zu gehen. Jeder in diesem Garten hatte Magusblut in den Adern und konnte mit einem einzigen Gedanken einen ganzen Trupp Soldaten auslöschen. Wenn nötig, konnte Gyle das auch, aber sich in den kaiserlichen Gärten mit einem jungen Heißsporn anzulegen schien ihm nicht ratsam. Da erblickte er Belonius Vult, der am Eingang zu den Gärten stand und ungeduldig winkte.
    Also dann. Es sind stets die kleinen Schritte, die uns zu großen Dingen führen .
    Als Belonius Gyles Umhang sah, verzog sich das glatte Gesicht des Gouverneurs zu einem herablassenden Lächeln. Vult trug eine silberblaue Seidenrobe – der Inbegriff des gut gekleideten Magus’. Gyle kannte ihn seit Jahrzehnten, und nie hatte er ihn anders gesehen als aufs Feinste herausgeputzt: Belonius Vult, Gouverneur von Noros im Namen seiner Kaiserlichen Majestät, auch genannt Verräter von Lukhazan. Der einzige General der Noros-Revolte, der in die Dienste des Reiches getreten war.
    »Hättest du dir nicht wenigstens eine saubere Tunika überwerfen können, Gurvon?«, fragte Belonius. »Wir treten vor den Kaiser und seine erst gestern heiliggesprochene Mutter.«
    »Sie ist sauber«, erwiderte Gyle. »Frisch gewaschen zumindest. Die Flecken gehen nicht mehr raus. Genau das erwarten sie doch von mir:
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