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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue
Autoren: Paul Auster
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mich fand in einem dunklen Walde. Aber so etwas kennen Sie ja nicht. Sie sind einer dieser kleinen Männer, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.»
    «Hören Sie», sagte Tom in sanftem, beruhigendem Tonfall. «Kann sein, dass Sie mich kennen, aber ich kann Ihnen ganz bestimmt nicht weiterhelfen.»
    «Werden Sie bloß nicht frech, Mister. Sie heißen Wood, aber Sie sind nicht gut. Comprendo? Ich bin hier, weil ich zu meinem Vater will, und zwar
auf der Stelle

    «Ich glaube, der ist nicht da», sagte Tom, indem er jäh die Taktik änderte.
    «Und ob der da ist. Der Knastbruder hockt im ersten Stock. Halten Sie mich für blöd?»
    Flora fuhr sich mit den Fingern durch die nassen Haare und spritzte einen Stapel kürzlich angekaufter Bücher voll, der auf einem Tisch neben der Ladenkasse stand. Dann zog sie hustend eine Marlboro-Packung aus einer Tasche ihres zerrissenen, viel zu weiten Kleids. Nachdem sie sich eine angezündet hatte, warf sie das brennende Streichholz auf den Boden. Tom verbarg seine Verblüffung und trat es gelassen aus. Er machte sich nicht die Mühe, sie darauf hinzuweisen, dass Rauchen in dem Laden nicht gestattet war.
    «Von wem reden Sie?», fragte er.
    «Harry Dunkel. Was dachten Sie denn?»
    «Dunkel?»
    «Dunkel wie finster, falls Ihnen das was sagt. Mein Vater ist ein Dunkelmann, und er lebt in einem dunklen Wald. Jetzt nennt er sich Brightman, aber mit dem Trick kommt er nicht durch. Er ist immer noch dunkel. Er wird immer dunkel sein – bis an sein Lebensende.»

BEUNRUHIGENDE ENTHÜLLUNGEN
    H arry musste Flora zweiundsiebzig Stunden lang zureden, bis sie wieder ihre Medikamente nahm – und eine ganze Woche, bis sie zu ihrer Mutter nach Chicago zurückging. Am Tag nach ihrer Abreise lud er Tom zum Abendessen in Mike & Tony’s Steak House an der Fifth Avenue ein, und zum ersten Mal seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis vor neun Jahren packte er über seine Vergangenheit aus – die ganze brutale, idiotische Geschichte seines vergeudeten Lebens   –, wobei er abwechselnd lachte und weinte, als er seinem ungläubig staunenden Gehilfen sein Herz ausschüttete.
    Angefangen hatte er in Chicago als Verkäufer in der Parfümabteilung von Marshall Field’s. Nach zwei Jahren stieg er zu der etwas höheren Position eines Schaufensterdekorateursgehilfen auf, und ohne seine unwahrscheinliche Verbindung mit Bette (sprich
Bet
) Dombrowski, der jüngsten Tochter des gemeinhin als Windel-Service-König des Mittleren Westens bekannten Multimillionärs Karl Dombrowski, wäre er dort auch zweifellos geblieben. Die Kunstgalerie, die Harry im Jahr darauf eröffnete, wurde vollständig von Bette finanziert; ihr Geld verhalf ihm überdies zu bis dahin unvorstellbarem Luxus und gesellschaftlichem Rang, aber es wäre falsch, anzunehmen, dass er sie nur heiratete, weil sie reich war, oder dass er unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in sein neues Leben eingetreten war. Was seine sexuellen Neigungen betraf, war er immer absolut offen zu ihr, aber nicht einmal das konnte Bette daran hindern,Harry für den begehrenswertesten Mann zu halten, den sie je gekannt hatte. Sie war damals schon Mitte dreißig, eine schlichte, unerfahrene Frau, auf dem besten Weg, zur alten Jungfer zu werden, und wusste, wenn sie bei Harry nicht landete, würde sie den Rest ihrer Tage als Objekt der Verachtung im väterlichen Haushalt verbringen müssen, die täppische, unverheiratete Tante der Kinder ihrer Brüder und Schwestern, eine Verbannte im Schoß der eigenen Familie. Zum Glück war sie mehr an Kameradschaft als an Sex interessiert und träumte davon, ihr Leben mit einem Mann zu teilen, der ihr ein wenig von dem Glanz und Selbstvertrauen abgeben konnte, an dem es ihr so mangelte. Falls Harry der Sinn nach einem gelegentlichen diskreten Abenteuer stünde, hätte sie nichts dagegen. Hauptsache, sie seien verheiratet, sagte sie, und Hauptsache, er wisse, wie sehr sie ihn liebe.
    Es hatte auch vorher schon Frauen in Harrys Leben gegeben. Seit den frühesten Jahren seiner Pubertät hatte er, gehetzt von ziellosen Trieben und Begierden, unterschiedslos Sexualpartner beiderlei Geschlechts gesammelt. Harry war froh, dass er so war, froh, immun gegen das Vorurteil zu sein, das ihn gezwungen hätte, lebenslänglich auf die Reize einer Hälfte der Menschheit zu verzichten, aber bis Bette ihm 1967 einen Heiratsantrag machte, war es ihm nie in den Sinn gekommen, eine feste Beziehung einzugehen, geschweige denn, dass er sich als
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