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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue
Autoren: Paul Auster
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müssen das sein. Ich wette, du hast in deinem Rückspiegel schon einiges zu sehen bekommen.»
    «Allerdings, Harry, du sagst es. Masturbation, Unzucht, Rauschzustände aller Art. Kotze und Sperma, Scheiße und Pisse, Blut und Tränen. Im Lauf der Zeit hat sich jede menschliche Körperflüssigkeit auf meine Rückbank ergossen.»
    «Und wer wischt das auf?»
    «Ich. Das gehört zum Job.»
    «Lass es dir gesagt sein, junger Mann», hauchte Harry, den Handrücken divenhaft an die Stirn legend, als wollte er in Ohnmacht sinken, «wenn du für mich arbeitest, wirst du feststellen, dass Bücher nicht bluten. Und dass sie ganz gewiss nicht
defäzieren

    «Es gibt auch schöne Momente», ergänzte Tom, der Harry nicht das letzte Wort lassen wollte. «Unvergesslich charmante Augenblicke, winzige Glanzpunkte, unerwartete Wunder. Morgens um halb vier auf dem Times Square, kein anderes Auto in Sicht, und du plötzlich ganz allein im Zentrum der Welt, und aus allen Schleusen des Himmels regnet Neon auf dich herab. Oder wenn du kurz vor Sonnenaufgang mit über hundert Sachen den Belt Parkway runterfährst und den Geruch des Ozeans in die Nase bekommst, der durchs offene Fenster zu dir hereinströmt. Oder wenn du über die Brooklyn Bridge fährst, und genau vor dir erscheint der Vollmond im Brückenbogen, und du siehst nur noch diese strahlend gelbe, erschreckend große Scheibe, und du vergisst, dass du hier unten auf der Erde lebst, und stellst dir vor, du fliegst, das Taxi hat Flügel, und du schwebst wahrhaftig durch die Luft. Kein Buch kann so etwas wiedergeben. Das ist für mich wahre Transzendenz.Den Körper hinter sich lassen und in den ganzen Reichtum der Welt eintauchen.»
    «Dafür muss man nicht Taxi fahren, Junge. Das geht mit jedem anderen Auto auch.»
    «Nein, das ist was anderes. In einem normalen Auto hat man nicht das Gefühl, sich abzurackern, und das ist ein wesentliches Element dieser Erfahrung. Die Erschöpfung, die Langeweile, die geisttötende Eintönigkeit. Und plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, überkommt dich dieses Gefühl von Freiheit, und für einige Sekunden bist du vollkommen selig. Aber man muss dafür bezahlen. Ohne Plackerei keine Seligkeit.»
    Tom wusste selbst nicht, warum er Harry solchen Widerstand leistete. Er glaubte nicht ein Zehntel von dem, was er ihm erzählte, aber sobald sie auf das Thema Jobwechsel zu sprechen kamen, wurde er störrisch und fing mit seinen abstrusen Gegenargumenten und Selbstrechtfertigungen an. Natürlich war ihm klar, dass es ihm bei Harry besser gehen würde, aber die Vorstellung, als Gehilfe eines Buchhändlers zu arbeiten, war auch nicht gerade umwerfend, kaum das, was ihm vorgeschwebt hatte, als er davon träumte, sein Leben einer gründlichen Revision zu unterziehen. Der Schritt schien ihm irgendwie zu klein, zu kümmerlich, als dass er sich damit begnügen wollte, nachdem er so viel verloren hatte. Und so ging das Werben weiter, und je mehr ihm sein Job zuwider war, desto hartnäckiger verteidigte er seine Trägheit; und je träger er wurde, desto mehr war er sich selbst zuwider. Der Schock, unter so trostlosen Umständen dreißig zu werden, entfaltete einige Wirkung, aber nicht genug, um ihn zum Handeln zu bewegen, und obwohl seine Mahlzeit am Tresen des Metropolitan Diner mit dem Entschluss geendet hatte, sich spätestens innerhalb eines Monats einen neuen Job zu besorgen, arbeitete er, als derMonat abgelaufen war, immer noch für die 3- D-Taxigesell schaft . Tom hatte sich immer gefragt, wofür diese drei D stehen mochten, und jetzt glaubte er es zu wissen. Dunkelheit, Destruktion und Dämmerzustand. Mit einem Wort: Tod. Er sagte Harry, er wolle sich das Angebot durch den Kopf gehen lassen, und dann tat er nichts mehr, wie immer. Hätte ihm nicht in einer eisigen Januarnacht irgendein stotternder, zugedröhnter Cracksüchtiger eine Kanone in den Hals gerammt – wer weiß, wie lange dieser unentschiedene Zustand noch angehalten hätte? Aber Tom hatte endlich kapiert, und als er am nächsten Morgen in Harrys Laden trat und ihm sagte, er habe sich entschlossen, den Job anzunehmen, waren seine Tage als Taxifahrer mit einem Schlag vorbei.
    «Ich bin dreißig Jahre alt», sagte er seinem neuen Boss, «und habe vierzig Pfund Übergewicht. Ich habe seit über einem Jahr nicht mehr mit einer Frau geschlafen, und in den letzten zwölf Tagen habe ich jeden Morgen von Staus in zwölf verschiedenen Teilen der Stadt geträumt. Ich könnte mich irren, aber ich
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