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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue
Autoren: Paul Auster
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anderen Stadt zu arbeiten – Pittsburgh oder Plattsburgh, Tom wusste es nicht mehr genau. Die Bude war schäbig und klein, ausgestattet mit einer Metalldusche im Bad, zwei Fenstern, die auf eine Backsteinmauer sahen, sowie einer winzigen Kochnische mit Minikühlschrank und einem zweiflammigen Gasherd. Ein Bücherregal, ein Stuhl, ein Tisch, auf dem Fußboden eine Matratze. Es war die kleinste Wohnung, in der er je gelebt hatte, aber mit der auf vierhundertsiebenundzwanzig Dollar im Monat festgesetzten Miete konnte Tom zufrieden sein. Im ersten Jahr nach dem Einzug verbrachte er dort ohnehin nicht sehr viel Zeit. Meist war er unterwegs, besuchte alte Freunde von der High School und vom College, die es nach New York verschlagen hatte, lernte durch die alten Bekannten neue kennen, vertrank sein Geld in Bars, ging, wenn sich die Gelegenheit ergab, mit Frauen aus, kurz, er versuchte, sich ein Leben zu basteln – oder etwas, das einem Leben ähnlich sah. Häufig endeten diese Versuche, sich ein gesellschaftliches Umfeld zu schaffen, in quälendem Schweigen. Seine alten Freunde, die ihn als hervorragenden Schüler und ungeheuer komischen Unterhalter in Erinnerung hatten, sahen entsetzt, was aus ihm geworden war. Tom war aus den Reihen der Gesalbten ausgeschieden, und nun schien sein Sturz ihr eigenes Selbstvertrauen zu erschüttern und sie, was ihre Aussichten betraf, mit neuem Pessimismus zu erfüllen. Es half auch nicht gerade,dass Tom so stark zugenommen hatte, dass seine frühere Stämmigkeit einer fast peinlichen Korpulenz gewichen war. Aber noch verstörender wirkte, dass er offenbar keine Pläne hatte, dass er nie davon sprach, wie er den Schaden, den er sich angetan hatte, beheben und sich wieder aufrappeln wollte. Wenn er von seinem neuen Job erzählte, sprach er in seltsamen, geradezu religiösen Wendungen und erging sich in Spekulationen über spirituelle Stärke und darüber, wie wichtig es sei, mit Geduld und Demut seinen Weg zu finden; das verwirrte sie so, dass sie unruhig auf ihren Stühlen herumrutschten. Toms Intelligenz war durch den Job nicht beeinträchtigt, aber niemand wollte mehr hören, was er zu sagen hatte, am wenigsten die Frauen, mit denen er sprach und die davon ausgingen, dass junge Männer immerzu kühne Ideen und kluge Pläne hatten, wie sie die Welt erobern würden. Tom vergrätzte sie mit seinen Zweifeln und Selbstanalysen, seinen verworrenen Erörterungen über das Wesen der Realität und seiner Zögerlichkeit. Schlimm genug, dass er sein Geld mit Taxifahren verdiente, aber ein philosophierender Taxifahrer, der in Armeeklamotten herumlief und einen dicken Wanst vor sich her trug, ging doch ein bisschen zu weit. Natürlich war er ein liebenswürdiger Mensch, und keine hatte direkt etwas gegen ihn, aber ein ernsthafter Kandidat war er nicht – weder für die Ehe noch auch nur für ein Abenteuer.
    Tom zog sich zunehmend in sich selbst zurück. Ein weiteres Jahr verging, und inzwischen war er so gründlich isoliert, dass er seinen dreißigsten Geburtstag ganz allein verbrachte. Die Wahrheit ist, dass er den Tag verschwitzt hatte, und da niemand anrief, um ihm zu gratulieren oder alles Gute zu wünschen, geschah es, dass es ihm erst am nächsten Morgen um zwei endlich einfiel. Da war er irgendwo draußen in Queens, wo er zwei betrunkene Geschäftsleutezu einem Stripclub namens Garden of Earthly Delights gebracht hatte, und um den Beginn der vierten Dekade seines Daseins zu feiern, fuhr er zum Metropolitan Diner am Northern Boulevard, nahm am Tresen Platz und genehmigte sich einen Schoko-Milkshake, zwei Hamburger und eine Portion Fritten.
    Unmöglich zu sagen, wie lange Tom ohne Harry Brightman noch in diesem Fegefeuer geblieben wäre. Harrys Laden lag in der Seventh Avenue, nur wenige Blocks von Toms Wohnung entfernt, und Tom hatte sich angewöhnt, täglich einmal in Brightman’s Attic vorbeizugehen. Er kaufte nur selten etwas, stöberte nur gern vor Schichtbeginn eine halbe oder ganze Stunde in den Büchern im Erdgeschoss herum. Zu Tausenden drängten sie sich da – alles Mögliche, von vergriffenen Wörterbüchern über vergessene Bestseller bis hin zu ledergebundenen Shakespeare-Ausgaben. Solche Papiergrüfte hatten es ihm schon immer angetan; hier konnte er in Stapeln ausrangierter Bücher blättern und den schönen alten Staubgeruch genießen. Bei einem seiner ersten Besuche hatte er Harry nach einer bestimmten Kafka-Biographie gefragt, und so waren die beiden ins Gespräch gekommen.
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