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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue
Autoren: Paul Auster
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post-historische Zeitalter.»
    «Post-historisch?»
    «Das
Jetzt
. Und auch das
Später
. Aber kein Verweilen mehr beim
Damals

    «Schnee von gestern, Tom.»
    Der ehemalige Dr.   Thumb schloss die Augen, legte den Kopf nach hinten und stieß den Zeigefinger in die Luft, als versuchte er sich an etwas zu erinnern, das er schon vor langer Zeit vergessen hatte. Dann rezitierte er mit düsterer, pseudo-theatralischer Stimme die ersten Zeilen von Walter Raleighs «Abschied vom Hof»:
    Wie falsche Träume, alle Freuden vergangen,
    Unwiederbringlich die vertändelten Tage,
    Das Falsche geliebt, erstorben das Verlangen:
    Von dem, was gewesen, bleibt nur die Klage.

FEGEFEUER
    N iemand wächst mit der Vorstellung auf, es sei ihm bestimmt, Taxifahrer zu werden, aber in Toms Fall hatte der Job als besonders harte Buße gedient, als eine Möglichkeit, das Scheitern seiner ehrgeizigsten Ziele zu betrauern. Er hatte vom Leben nicht viel erwartet, doch selbst das wenige hatte sich als unerreichbar erwiesen: seinen Doktor zu machen, eine Englisch-Professur an irgendeiner Universität anzutreten und die nächsten vierzig oder fünfzig Jahre in Forschung und Lehre zu arbeiten. Mehr hatte er nie haben wollen, allenfalls noch eine Frau und ein paar Kinder dazu. Das war doch nicht zu viel verlangt, aber nachdem Tom sich drei Jahre lang mit seiner Dissertation herumgeschlagen hatte, musste er schließlich einsehen, dass die Arbeit über seine Kräfte ging. Oder falls sie das nicht tat, konnte er sich jedenfalls nicht mehr davon überzeugen, dass sie noch irgendeinen Wert besaß. Also verließ er Ann Arbor und kehrte nach New York zurück, achtundzwanzig Jahre alt, ein Versager, der keine Ahnung hatte, wohin die Reise ging und was das Leben noch für ihn bereithielt.
    Zu Beginn war das Taxi bloß eine zeitweilige Notlösung, ein Provisorium, wovon er die Miete finanzierte, während er nach etwas anderem Ausschau hielt. Er suchte wochenlang, aber die Dozentenstellen an Privatschulen waren zu der Zeit gerade alle besetzt, und je mehr er sich an die Schinderei seiner täglichen Zwölfstundenschichten gewöhnte, desto geringer wurde seine Motivation, sich nacheiner anderen Arbeit umzusehen. Das Provisorium wurde zum Dauerzustand, und wenn ihm auch bewusst war, dass er vor die Hunde ging, glaubte er andererseits, dass dieser Job ihm vielleicht nützen könnte, dass er, wenn er darauf achtete, was er tat und warum er es tat, in seinem Taxi etwas lernen würde, das anderswo nicht zu lernen war.
    Was das sein sollte, war ihm nicht immer klar, aber dass er, wenn er sechs Tage die Woche von fünf Uhr nachmittags bis fünf Uhr morgens in seinem klapprigen gelben Dodge durch die Straßen schlich, etwas lernte, stand außer Frage. Die Nachteile dieser Arbeit waren so offensichtlich, so allgegenwärtig, so niederschmetternd, dass man, wenn man sie nicht zu ignorieren lernte, zu einem Leben voller Verbitterung und Trübsal verurteilt war. Die endlosen Schichten, die schlechte Bezahlung, die physischen Gefahren, der Bewegungsmangel – das waren die feststehenden Begleitumstände, an denen sich so wenig ändern ließ wie am Wetter. Wie oft hatte seine Mutter, als er noch klein war, zu ihm gesagt: «Am Wetter kann man nichts ändern, Tom.» Womit sie meinte, dass manche Dinge eben sind, wie sie sind, und dass wir sie nur akzeptieren können. Tom verstand das Prinzip, aber das hatte ihn nie daran gehindert, die Schneestürme und eisigen Winde zu verfluchen, die gegen seinen zitternden kleinen Körper wüteten. Jetzt schneite es wieder einmal. Sein Leben war zu einem einzigen Kampf gegen die Elemente geworden, und falls er jemals mit Recht auf das Wetter hätte schimpfen dürfen, dann jetzt. Aber Tom schimpfte nicht. Und er suhlte sich auch nicht in Selbstmitleid. Er hatte einen Weg gefunden, für seine Dummheit zu büßen, und wenn er diese Periode überlebte, ohne vollständig den Mut zu verlieren, gab es vielleicht doch noch Grund zur Hoffnung. Dass er am Taxifahren festhielt, hatte nichts mit dem Wunsch zu tun, aus einer schlimmen Situationdas Beste zu machen. Vielmehr suchte er nach einer Möglichkeit, irgendetwas in Gang zu bringen, und bis er begriffen hätte, was das eigentlich war, glaubte er, nicht das Recht zu haben, sich von dieser Fessel zu befreien.
    Er lebte in einem Einzimmer-Apartment an der Kreuzung Eighth Avenue und Third Street; das Zimmer hatte er vom Freund eines Freundes untergemietet, der aus New York fortgezogen war, um in einer
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