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Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue
Autoren: Paul Auster
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nach Hause kamen, brachte er mich nach oben in Lucys Zimmer und schloss mich ein. Ja, Onkel Nat, er hat mich eingeschlossen, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Als er am nächsten Morgen wieder reden durfte, erklärte er mir, was ich überReverend Bob behauptet habe, sei gelogen, und dafür müsse ich bestraft werden. Gelogen?, sagte ich. Was zum Teufel solle das denn heißen? Es habe keine Vergewaltigung stattgefunden, sagte er. Mein Besuch bei ihm habe einzig und allein dem Zweck gedient, ihn zu verführen – und der arme Mann habe nicht die Kraft gehabt, meinen Reizen zu widerstehen. Vielen Dank, David, sagte ich. Danke, dass du an mich glaubst und dass du endlich begreifst, was für eine gute Frau ich dir gewesen bin   …
    Einige Stunden später nagelte er Bretter vor die Fenster in dem Zimmer. Klar, was nützt ein Gefängnis, wenn der Gefangene aus dem Fenster klettern kann? Dann trug mein lieber Ehemann äußerst zuvorkommend die ganzen Sachen herauf, die wir nach Reverend Bobs Sonntagserlassen in den Keller gebracht hatten. Den Fernseher, das Radio, den C D-Player , die Bücher. Verstößt das nicht gegen die Vorschriften?, fragte ich. Ja, sagte David, aber ich habe heute Morgen nach dem Gottesdienst mit dem Reverend gesprochen, und er hat mir einen besonderen Dispens erteilt. Ich möchte es dir so angenehm wie möglich machen, Aurora. Na so was, sagte ich, was bist du denn auf einmal so nett zu mir? Weil ich dich liebe, sagte David. Du hast gestern etwas Böses getan, aber das ändert nichts an meiner Liebe. Um die Reinheit seiner Liebe zu beweisen, schleppte er als Nächstes einen großen Kochtopf an, damit ich mich zum Pinkeln und Scheißen nicht auf den Fußboden hocken musste. Übrigens, sagte er, freut es dich bestimmt zu erfahren, dass du vom Tempel exkommuniziert worden bist. Du bist draußen, aber ich bin noch drin. O wie furchtbar, sagte ich. Das ist der traurigste Tag meines Lebens   …
    Keine Ahnung, was ich da hatte, aber das Ganze kam mir vor wie ein Witz, ich konnte es einfach nicht ernst nehmen. Ich dachte, das geht nur ein paar Tage so, und dann haueich ab. Versprochen oder nicht, ich hatte nicht vor, auch nur eine Minute länger dazubleiben als nötig   …
    Aber aus den Tagen wurden Wochen, und aus den Wochen wurden Monate. David wusste genau, was ich dachte, und er hatte nicht vor, mich gehen zu lassen. Wenn er von der Arbeit kam, ließ er mich zwar aus dem Zimmer, aber ich hatte ja keine Chance, von ihm wegzulaufen. Er behielt mich ständig im Auge. Ich wäre nicht mal bis zur Tür gekommen. Höchstens zwei Schritte vielleicht. Er ist größer und stärker als ich, er brauchte mir nur nachzulaufen und mich zurückzuschleppen. Die Autoschlüssel hatte er immer in der Tasche, und das einzige Geld, das ich besaß, waren ein paar Münzen, die ich bei Lucy in einer Schublade gefunden hatte. Mir blieb nichts anderes als abwarten und hoffen, und nur ein einziges Mal ist es mir gelungen, aus dem Haus zu schleichen. Da habe ich versucht, Tom anzurufen. Daran erinnerst du dich doch? Es kam mir vor wie ein Wunder, aber jedenfalls schlief David nach dem Abendessen im Wohnzimmer ein. In anderthalb Meilen Entfernung gab es eine Telefonzelle, und da bin ich hingelaufen, so schnell ich konnte. Wenn ich nur den Mut gehabt hätte, ihm in die Tasche zu greifen und mir den Autoschlüssel zu nehmen! Aber ich konnte nicht riskieren, ihn zu wecken, also bin ich zu Fuß gegangen. Ich war vielleicht zehn Minuten weg, da ist er aufgewacht, und natürlich hat er sich ins Auto gesetzt und ist mir nach. Ein Fiasko. Ich hatte keine Zeit mehr, meinen verdammten Text zu Ende zu sprechen   …
    Jetzt weißt du, warum ich so blass und kaputt aussehe. Ich war sechs Monate lang in diesem Zimmer eingeschlossen, Onkel Nat. Ein halbes Jahr lang wie ein Tier eingesperrt in meinem eigenen Haus. Ich habe ferngesehen, Bücher gelesen, Musik gehört, aber hauptsächlich habe ich darüber nachgedacht, wie ich mich umbringen könnte. AmEnde habe ich mich nur deswegen nicht umgebracht, weil ich Lucy versprochen hatte, dass ich sie eines Tages wieder abholen würde, dass wir eines Tages wieder zusammenleben würden. Aber, Gott, einfach war das nicht, ganz und gar nicht einfach. Wenn du mich heute nicht da rausgeholt hättest, ich weiß nicht, wie lange ich es noch ausgehalten hätte. Wahrscheinlich wäre ich in diesem Haus gestorben. So sieht das aus, Onkel Nat. Ich wäre in diesem Haus gestorben, und mein Mann und der gute
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