Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brooklyn-Revue

Die Brooklyn-Revue

Titel: Die Brooklyn-Revue
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Reverend Bob hätten meine Leiche im Schutz der Nacht in ein namenloses Grab geworfen.»

EIN NEUES LEBEN
    D ank meiner Freundschaft mit Joyce Mazzucchelli, der das Haus in der Carroll Street gehörte, in dem sie mit ihrer Tochter Nancy und den zwei Enkeln lebte, gelang es mir, für Lucy und Aurora eine neue Bleibe zu finden. Im zweiten Stock dieses Hauses war noch ein Zimmer frei. In früheren Zeiten hatte es Jimmy Joyce als Werkstatt und Studio gedient, aber nachdem der Geräuschemacher aus Nancys Leben verschwunden war, könnten die beiden doch dort einziehen, schlug ich vor. Rory hatte kein Geld und keinen Job, aber ich war bereit, die Miete zu bezahlen, bis sie sich wieder aufgerappelt hätte, und da Lucy inzwischen alt genug war, Nancy gelegentlich bei den Kleinen auszuhelfen, hätten am Ende alle einen Vorteil davon.
    «Vergiss die Miete, Nathan», sagte Joyce. «Nancy braucht Unterstützung in ihrer Schmuckwerkstatt, und wenn es Aurora nichts ausmacht, beim Putzen und Kochen ein wenig auszuhelfen, kann sie das Zimmer umsonst haben.»
    Die gute Joyce. Wir hatten inzwischen seit fast sechs Monaten was miteinander, und auch wenn wir keine direkten Nachbarn waren, ging selten eine Woche ins Land, in der wir nicht mindestens zwei oder drei Nächte im selben Bett verbrachten – bei ihr oder bei mir, je nach Stimmung und äußeren Umständen. Sie war nur ein paar Jahre jünger als ich und also auch nicht mehr ganz taufrisch, aber mit achtundfünfzig, neunundfünfzig hatte sie immer noch genug drauf, dass es nie langweilig mit ihr wurde.
    Sex unter älteren Menschen kann seine peinlichen Momente und komischen Längen haben, ist aber auch von einer Zärtlichkeit geprägt, die den Jungen oft abgeht. Die Brüste mögen hängen, der Schwanz mag welken, aber Haut ist immer noch Haut, und wenn jemand, den du gern hast, die Hand nach dir ausstreckt, dich streichelt, in die Arme nimmt oder auf den Mund küsst, schmilzt du noch immer so dahin wie damals, als du dir eingebildet hast, du würdest ewig leben. Joyce und ich hatten noch nicht den Dezember unseres Lebens erreicht, aber den Mai hatten wir zweifellos längst hinter uns. Wir erlebten einen Nachmittag Mitte bis Ende Oktober, einen dieser strahlenden Herbsttage mit klarem blauem Himmel, einer frischen Brise in der Luft und Millionen Blättern an den Zweigen – die meisten davon schon braun, dazwischen aber noch so viel goldene, rote und gelbe, dass man sich so lange wie möglich im Freien aufhalten will.
    Nein, sie war keine solche Schönheit wie ihre Tochter, und nach den frühen Fotos, die ich von ihr gesehen hatte, war sie das auch nie gewesen. Joyce schrieb Nancys Aussehen ihrem Mann Tony zu, einem Bauunternehmer, der 1993 an einem Herzinfarkt gestorben war. «Ich habe nie einen schöneren Mann gekannt», erzählte sie mir einmal. «Er hatte eine unglaubliche Ähnlichkeit mit Victor Mature.» Bei ihrem starken Brooklyner Akzent klang der Name des Schauspielers aus ihrem Mund etwa wie
Victa Machuah
– der Buchstabe
r
so sehr verkümmert, dass er aus dem Alphabet gefallen zu sein schien. Ich liebte diese derbe, proletarische Stimme. Sie gab mir das Gefühl, bei Joyce auf sicherem Terrain zu sein, und nicht anders als ihre anderen Qualitäten sagte mir ihre Stimme, dies war eine Frau, die keine Anmaßung kannte, eine Frau, die an sich glaubte und wusste, wer und was sie war. Immerhin war sie die Mutter derSchönen perfekten Mutter, und wie hätte sie ein Mädchen wie Nancy großziehen können, wenn ihr nicht bewusst gewesen wäre, wer sie war?
    Oberflächlich betrachtet hatten wir kaum etwas gemeinsam. Wir stammten aus vollkommen unterschiedlichen Familien (großstädtisch katholisch, vorstädtisch jüdisch), und unsere Interessen wichen in nahezu allen Punkten voneinander ab. Joyce hatte keine Geduld für Bücher und las überhaupt gar nichts, während ich jeder körperlichen Anstrengung aus dem Weg ging und Unbeweglichkeit für das Nonplusultra eines guten Lebens hielt. Für Joyce war Bewegung mehr als nur Pflicht, sie war ihr ein Vergnügen, und am Wochenende stand sie sonntags am liebsten um sechs Uhr auf, um mit dem Rad durch den Prospect Park zu fahren. Sie arbeitete noch, ich war im Ruhestand. Sie war Optimistin, ich war Zyniker. Sie war glücklich verheiratet gewesen, und meine Ehe – aber genug davon. Sie interessierte sich wenig oder gar nicht für die Nachrichten, während ich tagtäglich sorgfältig die Zeitung las. Als Kind hatte sie für die Dodgers
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher