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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin
Autoren: Aufbau
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getreten. »Ich werde sterben.«
    »Herrin, Gott allein bestimmt die Lebensdauer jedes Menschen. Es werden wieder glückliche Tage kommen.«
    »Nein. Es ist bald soweit. Ich kann fühlen, daß meine Zeit hier zu Ende geht.«
     
    Ein kühler, nasser Wind wehte in das Turmzimmer herein. Catherine schloß die Tür hinter sich und wischte den Regen aus ihrem Gesicht. »Es gab Karpfensuppe«, sagte sie, »wieder. Aber sie haben auch frisches Brot gereicht.« Sie griff sich unter das Hemd und holte einen flachen Brotlaib hervor. Genau auf seine Gesichtszüge achtend, legte sie ihn neben Elias auf den Tisch.
    Er würdigte das Brot keines Blicks. Drei Talglichter standen vor ihm, dazwischen verstreut lagen Zirkel, Messer, Hobel, kleine Feilen und Bohrer. Elias schnitzte eine Brillenfassung. Nie hatte Catherine erlebt, daß er mehrere Tage mit dem Schnitzen einer einzigen Brillenfassung zubrachte.
    Die Ausbuchtung an der Seite der Linsenrahmen, die es erlaubte, daß die zwei Teile der Fassung einrasteten, wenn man sie zusammenklappte, war zu einer kleinen Treppe von drei |27| Stufen verwandelt. Hölzerne Augenbrauen schmückten die oberen Ränder der Brille. Die Stiele, die vom Nietgelenk zu den Linsenrahmen führten, schwangen sich wie Brückenbögen und waren mit Halbmonden befestigt.
    »Elias, ich weiß, daß du ein meisterlicher Brillenmacher bist. Ich weiß auch, daß ich nie wieder ein Werkzeug anrühren werde, wenn du es nicht wünschst. Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht erzürnen.«
    »Sehe ich wütend aus?«
    »Ja.«
    Der Brillenmacher sah auf. Dann senkte er den Blick und führte die Schnitzarbeit fort. »Du hast mich vor dem Herrn Ritter bloßgestellt.«
    »Es tut mir leid, aufrichtig.«
    »Laß mich ausreden, ich war noch nicht fertig. Das habe ich dir längst verziehen. Was mir aber schwerfällt, auch nur zu verstehen, ist, daß du dich meinem Wunsch widersetzt hast, nicht mit Linsen zu arbeiten. Wir führen eine Ehe. In einer Ehe nicht auf seinen Mann zu hören, ist das nicht –« Er stockte. »Cathe rine , ist das nicht Untreue? Du hattest es schon vor, als du nach Braybrooke kamst, nicht wahr?«
    Ihr wurde heiß. Sie wollte sprechen. Die Lippen rührten sich nicht.
    »Ich muß dir vertrauen können. Verstehst du das?«
    Sie nickte.
    »Ich bin alt, und du bist eine junge Frau. Eines Tages sind die Werkzeuge dein. Wenn du dann die Arbeit eines Mannes tun möchtest, bist du frei dazu.«
    Woher die Angst kam, Elias zu verlieren, vermochte sie nicht zu sagen. Aber sie hatte das dringende Bedürfnis, ihn zu halten. Lautlos trat sie hinter ihn und berührte seinen Rücken. »Es tut mir wirklich leid«, quetschte sie hervor.
    Da hielt er inne, faßte ihre Hand und drückte sie gegen seine Schulter. »Du bist ein großes Glück für mich, das weißt du auch. Sag, wie hast du es gemacht? Wie ist dir die passende Brille gelungen?« Er ließ sie los.
    |28| »Ich dachte, daß seine Augen verschieden sein könnten. Wie von unterschiedlichen Menschen. Ein schwaches Auge und ein starkes Auge. Du hattest erzählt, daß die dünnen Linsen etwas halfen und die dicken Linsen genauso. Er hat beides gebraucht: eine dicke und eine dünne Linse.«
    »Unterschiedliche Augen. Ich –« Elias brach ab.
    »Du hast sicherlich auch schon an so etwas gedacht.«
    »Nein, Catherine. Ich wäre mein Leben lang nicht auf diesen Gedanken gekommen. Nicht einmal mein Brabanter Meister wußte so etwas.«
    »Es ist wohl auch selten, vielleicht ist es eine Krankheit, die Sir Latimer hat.«
    »Von nun an werde ich die Möglichkeit einbeziehen, daß ein Mensch verschiedene Augen haben kann. Ich danke dir. Gott muß dir diesen Einfall geschenkt haben. Er hat dich weise gemacht. Ich bewundere dich, Catherine.«
    »Danke.« In wenigen Schritten war sie bei der Tür, riß sie auf und trat in den Nieselregen hinaus. Sie sog mit tiefen Atemzügen die kühle, nasse Welt ein. Er bewunderte sie! Elias, der Brillenmachermeister, bewunderte seine kleine, junge Frau! Catherine wollte die Hände ausstrecken und diese ganze Burg umarmen samt Waffenknechten, Mägden, Tieren und Türmen. Glücklicher kann ich nicht sein, dachte sie.
    Sie stand lange, lächelte zu den grauen Wolkenmassen hinauf. Die Nässe auf ihrem Gesicht hielt das Lächeln fest.
    Wie hatte sie Braybrooke Castle als unfreundlichen Ort empfinden können? Der Burghof gähnte leer, als hätte man Platz gemacht für den Regen. Alles war friedlich. Von den Türmen hingen schlaff die Fahnen herab.
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