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Die Botschaft des Feuers

Die Botschaft des Feuers

Titel: Die Botschaft des Feuers
Autoren: Katherine Neville Charlotte Breuer Norbert Moellemann
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ΠOжáр
    Als Solarin die Worte las, begann das Blut in seinen Schläfen zu pochen. Hastig blickte er in die Richtung, in die die Frau verschwunden war, aber es war, als hätte der Erdboden sie verschluckt. Dann sah er eine Bewegung zwischen einigen Bäumen. Nur kurz tauchte die Frau auf, um gleich darauf wieder hinter den Zarengemächern zu verschwinden - in einer Entfernung von mehr als hundert Schritten.

    Bevor sie um die Ecke des Gebäudes bog, drehte sie sich noch einmal um und schaute Solarin direkt an, woraufhin er, der ihr gerade folgen wollte, entsetzt stehen blieb. Selbst auf diese Entfernung hin konnte er die blassblauen Augen und das silberne Haar erkennen, das unter ihrem Kopftuch hervorlugte. Das war kein altes, gebeugtes Weiblein, sondern eine wunderschöne, unglaublich geheimnisvolle Frau.
    Dann war sie fort.
    »Das kann nicht sein«, hörte er sich sagen.
    Wie war es möglich? Niemand stand von den Toten auf. Und wenn doch, würde er nach fünfzig Jahren ganz anders aussehen.
    »Kennst du die Frau, Papa?«, fragte Xie so leise, dass niemand sonst es hören konnte.
    Solarin sank im Schnee neben seiner Tochter auf die Knie, umschlang sie mit den Armen und vergrub das Gesicht in ihrem wollenen Schal. Es kostete ihn große Mühe, nicht in Tränen auszubrechen.
    »Einen Augenblick dachte ich, sie käme mir bekannt vor«, sagte er. »Aber ich habe mich geirrt.«
    Er drückte sie noch fester an sich. In all den Jahren hatte er seine Tochter noch nie angelogen. Bis jetzt. Aber was hätte er ihr sagen sollen?
    »Was steht denn auf der Karte?«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Unter dem Bild von dem fliegenden Vogel?«
    » Opasno . Das bedeutet ›Gefahr‹«, antwortete er, bemüht, sich zusammenzureißen.
    Herrgott, was dachte er sich dabei? Es war nichts weiter als eine Halluzination, ausgelöst durch eine Woche voller Stress, miserablem Essen und erbarmungsloser Kälte. Er stand auf und packte seine Tochter an den Schultern. »Aber hier lauert nur eine Gefahr auf uns, nämlich die, dass du vergisst, wie
man Schach spielt!« Er schenkte Xie ein Lächeln, das sie nicht erwiderte.
    »Und was bedeuten die anderen beiden Wörter?«, fragte sie.
    » Beregis poschar «, sagte er. »Ich glaube, sie beziehen sich auf den Feuervogel oder den Phönix auf dem Bild.« Solarin schaute seine Tochter an. »Übersetzt bedeuten sie etwa: ›Hüte dich vor dem Feuer‹.« Er holte tief Luft. »Gehen wir hinein«, sagte er, »damit du diesem ukrainischen Dilettanten zeigen kannst, was für eine großartige Spielerin du bist!«

    In dem Augenblick, als sie die Sakristei des Klosters betraten, wusste Solarin, dass etwas nicht stimmte. Die Wände waren kalt und feucht und so deprimierend wie alles in diesem sogenannten Altweibersommer. Er dachte an die Botschaft der Frau. Was hatte sie zu bedeuten?
    Taras Petrossian, der schneidige, neokapitalistische Organisator des Turniers im italienischen Maßanzug, drückte gerade einem mageren Mönch mit einem schweren Schlüsselbund, der die Tür zum Gebäude aufgeschlossen hatte, ein dickes Bündel Rubelscheine als Trinkgeld in die Hand. Es hieß, Petrossian sei durch Unter-der-Hand-Geschäfte in seinen Edelrestaurants und Nachtklubs reich geworden. In Russland gab es dafür ein Wort: blat . Beziehungen.
    Die bewaffneten Schlägertypen waren bereits ins Allerheiligste eingedrungen - sie schlichen überall in der Sakristei herum oder lehnten sich lässig gegen die Wände. Und das nicht etwa, weil es ihnen draußen zu kalt geworden war. Dieses niedrige, massive Gebäude diente dem Kloster unter anderem als Schatzkammer.
    In hell erleuchteten Glasvitrinen waren die mittelalterlichen
Preziosen aus Gold und Edelsteinen ausgestellt. Bei all dem blendenden Glanz und Glitter würde es schwerfallen, sich auf das Schachspielen zu konzentrieren, dachte Solarin - aber der junge Wartan Asow saß bereits vor dem Schachbrett, die dunklen Augen auf die Figuren geheftet. Xie ließ die Hand ihres Vaters los und ging zu ihm hinüber, um ihn zu begrüßen. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Solarin, seine Tochter würde den arroganten Schnösel von der Platte putzen.
    Er musste aufhören, dauernd an diese Botschaft zu denken. Was wollte die Frau ihnen sagen? Gefahr? Hüte dich vor dem Feuer? Und dieses Gesicht, das er nie würde vergessen können, ein Gesicht aus seinen schlimmsten Albträumen, aus seinen tiefsten Ängsten …
    Dann entdeckte er es. In einer Vitrine am anderen Ende des Raums.
    Wie im Traum
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