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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel
Autoren: Günter Grass
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Trommel, den schattigen Winkel unter dem Tisch zu erreichen.
    Wie Sie zuvor schon bemerkt haben werden, ergab sich mir unter dem Tisch seit jeher die bequemste Art aller Betrachtungen: ich stellte Vergleiche an. Doch wie hatte sich seit dem Hingang meiner armen Mama alles geändert! Da versuchte kein Jan Bronski, oben vorsichtig und dennoch Spiel um Spiel verlierend, unten kühn, mit schuhlosem Strumpf Eroberungen zwischen den Schenkeln meiner Mama zu machen. Unter dem Skattisch jener Jahre gab es keine Erotik mehr, geschweige denn Liebe. Sechs Hosenbeine bespannten, verschiedene Fischgrätenmuster zeigend, sechs nackte, oder Unterhosen bevorzugende, mehr oder weniger behaarte Männerbeine, die sich sechsmal unten Mühe gaben, keine noch so zufällige Berührung zu finden, die oben, zu Rümpfen, Köpfen, Armen vereinfacht und erweitert, sich eines Spieles befleißigten, das aus politischen Gründen hätte verboten sein müssen, das aber in jedem Falle eines verlorenen oder gewonnenen Spieles die Entschuldigung, auch den Triumph zuließ: Polen hat einen Grand Hand verloren; die Freie Stadt Danzig gewann soeben für das Großdeutsche Reich bombensicher einen Karo einfach.
    Der Tag ließ sich voraussehen, da diese Manöverspiele ihr Ende finden würden — wie ja alle Manöver eines Tages beendet und auf erweiterter Ebene anläßlich eines sogenannten Ernstfalles in nackte Tatsachen verwandelt werden.
    Im Frühsommer neununddreißig zeigte es sich, daß Matzerath bei den wöchentlichen Zellenleiterbesprechungen unverfänglichere Skatbrüder als polnische Postbeamte und ehemalige Pfadfinderführer fand. Jan Bronski besann sich notgedrungen seines ihm zugewiesenen Lagers, hielt sich an die Leute der Post, so an den invaliden Hausmeister Kobyella, der seit seiner Dienstzeit in Marsza ek Pilsudskis legendärer Legion auf einem um einige Zentimeter zu kurzen Bein stand. Trotz dieses Hinkebeines war der Kobyella ein tüchtiger Hausmeister, mithin ein handwerklich geschickter Mann, von dessen eventueller Gutwilligkeit ich die Reparatur meiner kranken Trommel erhoffen durfte. Nur weil der Weg zum Kobyella über Jan Bronski führte, stellte ich mich fast jeden Nachmittag gegen sechs, selbst bei drückendster Augusthitze in der Nähe der Polensiedlung auf und wartete auf den nach Dienstschluß zumeist pünktlich heimkehrenden Jan. Er kam nicht. Ohne mir eigentlich die Frage zu stellen: was treibt dein mutmaßlicher Vater nach Feierabend? wartete ich oft bis sieben, halb acht. Aber er kam nicht. Ich hätte zur Tante Hedwig gehen können. Womöglich war Jan krank, fieberte oder bewahrte ein gebrochenes Bein im Gipsverband auf. Oskar blieb auf dem Fleck und begnügte sich damit, dann und wann Fenster und Gardinen der Postsekretärswohnung zu fixieren. Eine merkwürdige Scheu hielt Oskar davon ab, seine Tante Hedwig aufzusuchen, deren Blick aus warm mütterlichen Kuhaugen ihn traurig stimmte. Auch mochte er die Kinder der Bronskischen Ehe, die mutmaßlich seine Halbgeschwister waren, nicht besonders. Die gingen mit ihm um wie mit einer Puppe. Die wollten mit ihm spielen, ihn als Spielzeug benutzen. Woher nahm der mit Oskar fast gleichaltrige, fünfzehnjährige Stephan das Recht, ihn väterlich, immer belehrend und von oben herab zu behandeln? Und jene zehnjährige Marga mit Zöpfen und einem Gesicht, in dem ständig der Mond voll und fett aufging: sah sie in Oskar eine willenlose Ankleidepuppe, die man stundenlang kämmen, bürsten, zurechtzupfen und erziehen konnte? Natürlich sahen die beiden in mir das anomale, bedauernswerte Zwergenkind, kamen sich selbst gesund und vielversprechend vor, waren ja auch die Lieblinge meiner Großmutter Koljaiczek, der ich es leider schwer machen mußte, in mir einen Liebling zu sehen. Mir konnte man mit Märchen und Bilderbüchern kaum beikommen. Was ich von der Großmutter erwartete, selbst heute noch breit und genußvoll ausmale, war recht eindeutig und deshalb nur selten zu erlangen: Oskar wollte, sobald er sie sah, seinem Großvater Koljaiczek nacheifern, bei ihr untertauchen und, wenn möglich, nie wieder außerhalb ihres Windschattens atmen müssen.
    Was habe ich nicht alles getan, um unter die Röcke meiner Großmutter zu gelangen! Ich kann nicht sagen, daß sie es nicht mochte, wenn Oskar ihr darunter saß. Nur zögerte sie, wies mich auch meistens zurück, hätte wohl jedem halbwegs dem Koljaiczek Ähnlichen. Zuflucht geboten, nur mir, der ich weder die Figur noch das immer lockere
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