Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Berufung

Titel: Die Berufung
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
was das Richtige war. Er hatte gebetet, bis er des Betens müde war. Er hatte versucht, Doreen seine Bedenken zu erklären, aber sie war ebenso besorgt und verunsichert wie er selbst.
    Wenn er das Urteil aufhob, verriet er seine Überzeugung. Aber war seine Überzeugung denn noch dieselbe? Und wie konnte er als über allem stehender Richter plötzlich wegen einer familiären Tragödie die Seiten wechseln?
    Wenn er das Urteil bestätigte, verriet er seine Wähler. Dreiundfünfzig Prozent der Menschen hatten für Ron Fisk gestimmt, weil sie an seine Grundsätze glaubten. Aber war das überhaupt richtig? Vielleicht hatten sie ihn nur gewählt, weil er so gut vermarktet worden war.
    War es gegenüber den Aarons dieser Welt fair, wenn Ron seine Überzeugung als Jurist wegen seines eigenen Sohnes und aus blankem Egoismus über den Haufen warf?
    Er hasste diese Fragen, die an ihm zehrten. Verwirrt wie nie zuvor lief er in seinem Büro hin und her. Am liebsten wäre er wieder gegangen, hätte die Flucht ergriffen. Aber er war es müde, sich zu drücken, mit sich selbst zu reden und wie ein Tier im Käfig auf und ab zu gehen. Also tippte er seine Stellungnahmen:
    Ich stimme Richter Calligan zu, allerdings nur mit größten Bedenken. Dieses Gericht setzt sich zunehmend blindlings für die Interessen derjenigen ein, die die Haftung in allen Bereichen, in denen Menschen zu Schaden kommen können, drastisch einschränken wollen. Mich trifft daran eine Mitschuld, schon allein durch meine bloße Anwesenheit an diesem Gericht.
    In der zweiten Stellungnahme ging es um das Pflegeheim:
    Ich stimme Richter Albritton zu und bestätige damit das Urteil des Circuit Court von Webster County. Das Verhalten des Pflegeheims erfüllt bei Weitem nicht die Anforderungen des Gesetzgebers an die notwendige Sorgfalt.
    Dann schrieb er ein Memo an das Gericht:
    Für die nächsten dreißig Tage bin ich von meiner Tätigkeit am Gericht beurlaubt. Ich werde zu Hause gebraucht.
    Der Supreme Court von Mississippi stellt seine Entscheidungen jeden Donnerstag um zwölf Uhr mittags ins Internet.
    Und jeden Donnerstagmittag saßen Anwälte voll gespannter Erwartung vor ihrem Computer oder sorgten dafür, dass jemand anders das für sie übernahm. Jared Kurtin ließ einen seiner Mitarbeiter Wache halten. Sterling Bintz behielt sein Smartphone um diese Zeit fest im Auge, wo auch immer auf der Welt er gerade war. F. Clyde Hardin, der in Bezug auf neue Technologien noch im Steinzeitalter lebte, saß in seinem dunklen Büro hinter verschlossenen Türen, kippte einen Mittagsdrink nach dem anderen und wartete. Jeder Prozessanwalt mit Bowmore-Mandanten verfolgte die Veröffentlichungen.
    Auch einige Nichtjuristen warteten gespannt. Tony Zachary und Barry Rinehart telefonierten grundsätzlich miteinander, wenn die Stellungnahmen bekannt wurden. Carl Trudeau zählte jede Woche die Minuten. In Manhattan beobachteten Dutzende von Wertpapieranalysten die Website. Denny Ott aß mit seiner Frau im Büro der Kirche ein Sandwich, weil ihr Wohnhaus nebenan keinen Computer hatte.
    Besonders gefürchtet und ersehnt war die magische Stunde in den schäbigen Räumen von Payton & Payton. Die gesamte Kanzlei versammelte sich im »Loch« um den wie immer viel zu vollen Tisch und verzehrte ihr Mittagessen, während Sherman sein Laptop nicht aus den Augen ließ.
    »Hier ist es«, verkündete er am ersten Donnerstag im Mai um 12.15 Uhr. Das Essen war vergessen. Die Luft wurde dünner, das Atmen mühsamer. Wes und Mary Grace vermieden es tunlichst, einander anzusehen. Jeder im Raum wich den Blicken der anderen aus.
    »Die Stellungnahme der Mehrheit stammt von Richter Ar-Ion Calligan«, fuhr Sherman fort. »Ich werde die ersten fünf, zehn, fünfzehn Seiten überspringen. Die Begründung ist einundzwanzig Seiten lang und wird von Romano, Bateman, Ross und Fisk unterstützt. Aufgehoben. Endentscheidung zugunsten der Beklagten Krane Chemical. Romanos Stellungnahme besteht aus vier Seiten seines üblichen Geschwafels. Fisk fasst sich kurz.« Eine Pause, während er weiter nach unten blätterte. »Dann kommt eine zwölfseitige abweichende Stellungnahme von McElwayne, die von Albritton unterstützt wird. Mehr brauche ich nicht zu wissen. Diesen Schrott lese ich bestimmt einen Monat lang nicht mehr.« Damit erhob er sich und verließ den Raum.
    »Völlig unerwartet kommt die Entscheidung ja nicht«, sagte Wes. Niemand antwortete.
     
    F. Clyde Hardin saß an seinem Schreibtisch und weinte. Seit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher