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Die Berufung

Titel: Die Berufung
Autoren: John Grisham
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Aufnahme verglichen hatten, gab der Mediziner nach einem kurzen Wortwechsel zu, dass es in der Notaufnahme an dem bewussten Abend chaotisch zugegangen war. Sie hatten viel zu wenig Personal gehabt, und offenbar war ihm in der Hektik ein Fehler unterlaufen. Er konnte es nicht fassen, dass er sich bei dem Sohn eines Richters am Supreme Court derart geirrt hatte.
    »Wird mich die Familie verklagen?«, fragte er, sichtlich erschüttert.
    »Das weiß ich nicht, aber ich würde vorschlagen, Sie benachrichtigen Ihre Versicherung.«
    Treet nahm die Akte mit nach Jackson, um sie mit Ron und Doreen zu besprechen. Er erklärte ihnen, wie eine routinemäßige Computertomografie ablief, und schilderte seine Unterhaltung mit dem Arzt in Russburg.
    »Was hätte damals getan werden müssen?«, fragte Doreen.
    Treet wusste, dass die Frage kommen würde. Seine Freunde würden wissen wollen, was er von dem Medizinerkollegen hielt. Er hatte bereits vor Tagen beschlossen, so aufrichtig wie möglich zu sein.
    »Er hätte sofort hergebracht werden müssen, um das Blutgerinnsel entfernen zu lassen. Das ist zwar Gehirnchirurgie, aber keine sonderlich komplizierte Operation. Josh wäre zwei Tage nach der Operation wieder zu Hause gewesen und hätte keinerlei Schäden davongetragen.«
    »Die Computertomografie wurde Freitagabend um zwanzig Uhr gemacht«, sagte Ron. »Du hast Josh neun Stunden später in Brookhaven untersucht, stimmt's?«
    »In etwa.«
    »Also ist der Schädelinnendruck neun Stunden lang ständig gestiegen?«
    »Ja.«
    »Und die Hirnkompression aufgrund des Blutgerinnsels schädigt das Gehirn?«
    »Ja.«
    Lange sagte keiner von ihnen etwas. Keiner wollte aussprechen, was auf der Hand lag.
    »Calvin, was würdest du tun, wenn Josh dein Kind wäre?«, fragte Ron schließlich.
    »Den Mistkerl verklagen. Das war grobe Fahrlässigkeit.«
    »Das kann ich nicht, Calvin. Ich würde mich selbst zum Gespött machen.«
    Nach einem Squashspiel, einer Dusche und einer Massage im Fitnesscenter des Senats stieg Myers Rudd in eine Limousine und quälte sich wie alle anderen durch den Spätnachmittagsverkehr. Eine Stunde später traf er am Terminal der Allgemeinen Luftfahrt in Dulles ein, wo er an Bord einer Gulfstream 5 ging, der neuesten Maschine in der Flotte von Mr Carl Trudeau. Der Senator wusste nicht, wem der Jet gehörte, und war Mr Trudeau nie persönlich begegnet. In den meisten Kulturen hätte man das in Anbetracht der Tatsache, dass Rudd so viel Geld von dem Mann bekommen hatte, für ungewöhnlich gehalten. Nicht aber in Washington, wo das Geld durch Myriaden merkwürdiger, nebulöser Kanäle fließt. Oft haben die Empfänger nur eine vage Vorstellung von der Herkunft der Mittel, häufig auch gar keine. In den meisten Demokratien würde die Zahlung derartiger Summen als Bestechung gelten, doch Washington hat die Korruption legalisiert. Senator Rudd hatte kein Problem damit, sich kaufen zu lassen. Auf seinem Konto lagen über elf Millionen Dollar, die er behalten konnte, falls er nicht gezwungen war, sie für einen unsinnigen Wahlkampf auszugeben. Für diese Zuwendungen hatte sich Rudd mit der - so gut wie immer - richtigen Stimmabgabe in allen Fragen revanchiert, die Pharmaund Chemieindustrie, Mineralölfirmen, Energieversorger, Versicherungen, Banken und dergleichen mehr betrafen.
    Aber er war ein Mann des Volkes.
    An diesem Abend reiste er allein. Die beiden Flugbegleiterinnen servierten Cocktails, Hummer und Wein. Das Mahl war kaum beendet, als die Gulfstream ihren Anf lug auf den Jackson International Airport begann. Dort wartete bereits eine weitere Limousine, die den Senator zwanzig Minuten nach der Landung an einem Seiteneingang des University Medical Center absetzte. In einem Zimmer im zweiten Stock fand er Ron und Doreen vor, die mit leerem Blick auf einen Fernsehbildschirm starrten, während ihr Sohn schlief.
    »Wie geht es dem Jungen?«, fragte Rudd voller Wärme, als die beiden sich aufrappelten und versuchten, einigermaßen präsentabel auszusehen. Sie konnten es kaum glauben, dass dieser bedeutende Mann um 21.30 Uhr an einem Dienstagabend plötzlich vor ihnen stand. Doreen konnte ihre Schuhe nicht finden.
    Sie sprachen leise über Josh und dessen Fortschritte. Der Senator behauptete, er habe geschäftlich in der Stadt zu tun gehabt und sei schon auf dem Rückweg nach Washington. Nachdem er von dem Unfall gehört habe, habe er aber unbedingt noch bei ihnen vorbeischauen wollen. Die Fisks waren gerührt, ja geradezu
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