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Die Ballonfahrerin des Königs

Titel: Die Ballonfahrerin des Königs
Autoren: Tania Douglas
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sich um ein ernstes Gesicht bemüht und war auf dem feuchten Kies der Parkallee in die Knie gegangen. Sofort hatte
     der Vierjährige sich an ihrem Seidenkleid zu schaffen gemacht.
    So!
Ein zufriedenes Kindergesicht.
Jetzt bist du verpflichtet, mich zu beschützen, dein Leben lang. Und du darfst mich nie, nie mehr allein lassen!
Zwei kleine Arme, die sich um ihren Hals legten und sie drückten, bis sie lachend um Gnade flehte.
    «Ich sah ihn aufwachsen, mon père», sagte Marie-Provence sanft. «Er ist der kleine Bruder, den ich nie hatte. Und das letzte
     bisschen Familie, das mir bleibt.»
    «Du hast noch deine Tante und deinen Onkel.»
    «Das ist richtig. Doch sie sind versorgt. Keiner von ihnen braucht mich so wie er.»
    «Bist du dir da so sicher, ma fille? Ist dir eigentlich bewusst, wie krank dein Onkel ist?»
    Marie-Provence senkte den Kopf. «Ihm zu helfen, steht nicht in meiner Macht.»
    «Dem Jungen aber schon?»
    Marie-Provence legte eine Hand auf die Tasche ihres Kleides. Der Ausschnitt aus dem
Journal de Paris
knisterte leise als Antwort. Erregung und Hoffnung veränderten ihre Stimme: «Dem Jungen vielleicht schon. So Gott mir hilft.»
    ***
    «He, citoyenne, wie wär’s mit einem Pfirsich?»
    Marie-Provence sah sich nach der Stimme um. Ob sie sich jemals daran gewöhnen würde, als Bürgerin angesprochen zu werden?
     Die von der Revolution aufgenötigte Anrede stieß ihr noch immer auf. Hinter ihr stand eine verhüllte Gestalt, die ihr verstohlen
     eine samtige Frucht hinhielt. Marie-Provence dachte an den gestrigen Abend und ihren am Boden gefesselten Onkel. Wie gerne
     sie dem Kranken eine dieser Köstlichkeiten aus Paris mitgebracht hätte!
    |19| «Süß und saftig, citoyenne! Wenn du nicht mit Papier zahlst, sondern mit Kupfermünzen, gehört er dir», murmelte die Schwarzmarkthändlerin.
     «Nimm gleich zwei, dann kannst du einen deinem Liebsten schenken. Der schaut aus, als würde er süße Früchte nicht verachten!»
    «Wem?», fragte Marie-Provence verwundert.
    «Na, dem Kerl da, der dich keinen Moment aus den Augen lässt!», meinte die Obstverkäuferin mit einem Nicken.
    Marie-Provence drehte sich zur Seite und entdeckte einen hochgewachsenen Mann, der ein paar Schritte abseits im Schatten einer
     Toreinfahrt stand. Markante Züge, gelockte Haare, die die Ohren einen Daumenbreit bedeckten. Er hielt etwas in der Hand –
     ein Schreibheft oder ein Buch, in dem er eifrig herumkritzelte. Der Mann bewegte sich nicht, auch nicht, als ihre Blicke sich
     trafen. Ein Kribbeln überzog ihre Haut. Ein Blick zur Kirchturmuhr sagte ihr, dass sie gerade noch fünf Minuten Zeit hatte.
    «Na, was ist nun mit meinen Pfirsichen?», fragte die Obstverkäuferin.
    «Ein anderes Mal vielleicht», antwortete Marie-Provence, schob sich an der Frau vorbei und überquerte ohne auffällige Hast
     den kleinen Platz.
    Als sie an der nächsten Straßenecke zurückblickte, war der Mann verschwunden. Erleichtert bog Marie-Provence in eine belebte
     Gasse ein. Noch zwei Straßen, und sie würde ihr Ziel erreicht haben. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass man ihr auf die
     Spur gekommen war, mahnte sie sich, während sie sich einen Weg durch den trägen Fluss der Menschen bahnte. Dennoch war sie
     beunruhigt, und ihr Blick suchte immer wieder die Umgebung ab.
    Als sie den Mann zum zweiten Mal erblickte, schoss ihr Angst durch die Glieder. Triumph blitzte im Gesicht des Mannes auf,
     als sie sich über die Köpfe der Menschen hinweg ansahen. Marie-Provence wechselte abrupt die Richtung und beschleunigte ihren
     Schritt.
    Die île de la Cité war ein im Laufe der Jahrhunderte gewachsenes Durcheinander von engen, verwinkelten Gassen |20| und in die Höhe geschossenen Häusern. In den Sträßchen taten sich immer wieder Öffnungen und Durchlässe auf, sie stanken nach
     Moder und Fäkalien. Eine Veilchenverkäuferin keifte verärgert, als Marie-Provence sie anrempelte, und im letzten Augenblick
     wich Marie-Provence dem ausscherenden Wagen eines Lumpensammlers aus. Sie hastete weiter, fiel in einen schnellen Trab, während
     Beschimpfungen auf sie niederprasselten.
    Sie verbot es sich, ihrer Angst nachzugeben und einfach draufloszurennen. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Der Termin
     in der maison de la couche war zu wichtig, die Gelegenheit, die sich ihr heute bot, zu einmalig, um sie durch unüberlegtes
     Handeln zu verspielen.
    An einer Kreuzung hielt sie außer Atem an. Es schlug Viertel nach zehn – sie kam zu
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