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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten
Autoren: Per Olov Enquist
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aber die Stimme war so weit weg gewesen, war manchmal sehr leise geworden oder verstummt, als hätte sie sich hinter eine Mauer aus großer Müdigkeit, Erschöpfung oder Resignation zurückziehen wollen. War es tatsächlich so, dass Östen Undén die eigentliche Zentralfigur dieser Tragödie war: ein Mensch, der einen Beschluss geerbt hatte, der im Grunde seiner Überzeugung zuwiderlief, ein Mensch, den man gezwungen hatte, etwas zu verteidigen, woran er nicht glaubte?
    Diese Auslieferung warf so viele Fragen auf.
    Jetzt weinten sie hinter ihm, sie riefen und weinten, die Rufe flogen wie Vögel über das Wasser. Er hatte immer geglaubt, dass es dem Menschen möglich sei, die ihn lenkenden Kräfte zu registrieren, und das wurde zu der Arbeitshypothese, die ihn bei seiner Untersuchung leitete: aber als er sie abschloss, schien die Wirklichkeit einen Sprung zur Seite gemacht zu haben, und es stellte sich heraus, dass er im Begriff war, andere Fragen zu formulieren. Fragen, die alle bei Problemen wie dem der Auslieferung der Balten ihren Anfang hatten, aber unter anderen Vorzeichen standen: Fragen nach der hierarchischen Struktur in der Politik, nach der Rolle der Gewalt, nach der Rolle der meinungsbildenden Organe, nach dem Fremdsein des normalen Menschen gegenüber der Politik. Das Schiff wendete, da vorn arbeiteten die Schlepper, er konnte sie nicht sehen, wusste aber, dass sie da waren. Wenn er wollte, würde er ein Stück nach vorn gehen können, und dann würde er sie sehen. Die Politik war zugänglich, sie war nicht allein bestimmten Menschen vorbehalten. Das Muster war erkennbar, mochte er auch in vielem geirrt oder versagt haben. In manchen Augenblicken der Hellsichtigkeit oder einer vermeintlichen Hellsichtigkeit glaubte er sehen zu können, wie ökonomische und politische Systeme die Menschen vor sich hertrieben, sie banden und ihre Wertvorstellungen mit tausend kleinen Drähten lenkten, wie sie ihre Empörung und Gleichgültigkeit dirigierten, wie sie sie aufweckten oder verführten. Den Mechanismus der Verführung, den Mechanismus der Gleichgültigkeit. Die Bedingungen der Gefangenschaft und der Befreiung. Den Mechanismus des Gefühls. Aber das reine, kristallische Muster, von dem er geträumt hatte, und das logische Spiel, dem er nachgejagt war, schienen immer von Menschen und menschlichen Gesichtern verdeckt zu werden – und von Leben. Von Leben.
    Er saß allein auf seiner Seite des Decks, der Sonne zugewandt. Er wusste es selbst nicht, aber was er jetzt erlebte, war die letzte glückliche Phase der Untersuchung. Der Sommer sollte noch entspannt sein, die Arbeit frei von Leidenschaft, er würde noch einen Monat lang an der Auslieferung herumlaborieren können, an ihr und an den Ausgelieferten, als beschäftigte er sich mit einem Spiel. Dann würden alle Gesichter und alle Stimmen ihn übermannen, ihre Schicksale würden ihm zu nahe kommen, sich ihm aufdrängen, der Überblick würde unklar werden, das Trauma verschwommen und kompliziert, sein eigenes Leben zu sehr in die Nähe ihrer Schicksale geraten. Denn sie lebten ja, und sie würden selbst als Tote noch weiterleben, und als er an einem Frühlingstag des Jahres 1968 die letzten Zeilen niederschrieb, tat er es mit einem fast desperaten Gefühl der Erleichterung, als sollte er jetzt endlich Gelegenheit bekommen, frei zu atmen, sein Leben zu leben und das Gefängnis zu verlassen, das sie ihm errichtet hatten.
    Da saß er nun, an Deck, in der Sonne, das Spiel war noch ein Spiel, das nur zum Teil von ihren Gesichtern verdeckt wurde. Er dachte: ich lasse alles hinter mir, ich verschließe mich, kapsle mich ab. Vor mir liegen eine Wasserfläche, Sonne, Licht, ein Glitzern, Wärme. Er dachte: ich bleibe sitzen, höre ihre Rufe nicht, sehe ihre Tränen nicht. Ich bleibe sitzen, nehme nicht Anteil, sitze hier in der Sonne. Ganz allein. Ich rede mir ein, dass ich niemals verstehen werde. Ich werde dennoch nie verstehen.

EPILOG
    D ieser Roman ist am 3. September 1968 erschienen. Das ist mehr als 40 Jahre her; damals existierten die baltischen Staaten kaum in unserem Bewusstsein, es sei denn als unterdrücktes schlechtes Gewissen. Jetzt sind Estland, Lettland und Litauen seit 20 Jahren frei. Die Situation ist eine andere. Auch die Probleme haben sich geändert.
    Ich schreibe an einer Stelle im Buch darüber, wie kompliziert es ist, eine historische Situation inmitten einer anderen zu betrachten – was ich also erlebte, als ich über diese schwedische
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