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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten
Autoren: Per Olov Enquist
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Eichfuss als einen repräsentativen Fall anzusehen, er hatte aber auf der anderen Seite zu viele saturierte ehemalige Legionäre kennengelernt, um die Stirn zu einer solchen Behauptung haben zu können. Sie saßen in ihren modernen Wohnungen mit Frau und Kindern, sie hatten Arbeit und schienen die Auslieferung mehr als eine unangenehme Periode in ihrem Leben anzusehen und nicht als eine über das Leben entscheidende Tragödie. Nein, Eichfuss war nicht repräsentativ. Aber es gab ihn. Wenn es eine Frage gab, so war er eine der 146 möglichen Antworten. Von seinem Schicksal aus ließen sich keine Verallgemeinerungen wagen. Trotzdem war es unmöglich, an ihm vorbeizugehen.
    Er verschwand 1967 an einem heißen Septembertag in Riga, er verschwand als kleiner weißer Fleck hinter der Rückscheibe eines Autos, er sollte aber nie aus der Untersuchung oder aus den Gedanken des Untersuchers verschwinden. Eine halbe Stunde später saß er selbst in einem Taxi auf dem Weg zum Flugplatz. Dies war jene moderne Form von Untersuchungen, bei denen man nach einem Zeitplan in das Leben anderer Menschen eindringt und es wieder verlässt. Aber ein Teil der Untersuchung und seines eigenen Lebens war vollbracht. Die Menschen, mit denen er gesprochen hatte, konnten ihn nicht mehr mit ihrem Leben verfolgen, es sei denn, in seinen Gedanken und Träumen, es sei denn, indem sie sich weigerten, aus seinem Leben zu verschwinden.

6
    E r verbrachte viele Abende damit, unter den Bildern, Aufzeichnungen, Puzzleteilen und Ereignissen, die er hatte, auszuwählen; er war unschlüssig, was er ans Ende stellen sollte. Etwas musste schließlich da stehen, auch wenn es ihm nicht richtig vorkam anzudeuten, dass der Bau fertig, das Bild vollendet wäre: was er zeigte, war ja nur ein Ausschnitt, eine mögliche Auslegung, eine Auswahl.
    Schließlich entschied er sich hierfür.
    Es war Juli 1967, kurz vor der Rückfahrt nach dem ersten Aufenthalt in Lettland. Die letzten Stunden hatten sie in einem Café in der Nähe des Hafens zugebracht. Er war mit dem Schiff gekommen und wollte auch mit dem Schiff wieder zurückfahren. Sie hatten in dem chaotischen Stimmengewirr gesessen, das in der Stunde vor der Abreise entsteht, und plötzlich war eine Frau an ihren Tisch gekommen.
    Sie mochte sechzig Jahre alt sein. Sie war Deutsche und war ihrem Mann in die russische Kriegsgefangenschaft gefolgt. Sie hatten in der östlichen Sowjetunion gelebt, in einem Arbeitslager, sie hatte zwei Kinder von ihm bekommen, aber dann hatte er sie verlassen und eine Russin geheiratet. Jetzt war sie schon seit langem mit den Kindern allein. Sie trat an den Tisch, setzte sich hin und sprach schnell und komprimiert. Manche Zusammenhänge waren unklar, aber so viel war doch herauszuhören, dass die Russen ihr keine Ausreisegenehmigung erteilten, was sie dringend wünschte. Ihre Kinder waren jetzt erwachsen und arbeiteten beide in Riga, aber sie fühlte sich hier nicht wohl. Sie sprach ein höchst mangelhaftes Lettisch. Es war, kurz gesagt, eine unmögliche und verzweifelte Lage. Sie musste einmal sehr schön gewesen sein. Da saß sie nun mit ihrem Saftglas und ihrem reinen Profil, ihren zurückgestrichenen Haaren, mit wem sollte sie Kontakt aufnehmen? Sie konnten nicht viel tun, sie wollten jetzt an Bord gehen, was war sie für ein Mensch? Sie gingen an Bord, sie war nicht einmal eine Parenthese in seiner Untersuchung, möglicherweise ein Komma. Eine Viertelstunde hatte er mit ihr gesprochen, wie war ihre Vorgeschichte? Konnte er es sich leisten, sich mit Kommata aufzuhalten? Das Schiff lag am Kai, fast in der Stadtmitte Rigas, man kam von Westen her, vom Meer, fuhr die Daugava aufwärts und war schließlich fast im Zentrum Rigas. Da lag das Schiff, sie gingen an Bord. Es waren viele Menschen dort, um auf Wiedersehen zu sagen, denn dies war eines der beiden Schiffe, die in jedem Sommer mit Touristen und Verwandten aus Stockholm und der westlichen Welt hierherkamen. Später stand er an Deck und sah auf die sich immer mehr drängenden Menschen hinunter. Die Frau aus dem Café war nicht zu sehen, sie war ein Kommazeichen, das er endgültig streichen konnte. In welchen politisch-moralischen Konflikt würde sie sich einfügen lassen? In welchem Muster war sie der irrationale Faktor? Welchen kollidierenden Grundsätzen war sie zum Opfer gefallen?
    Zwischen dem Zollgebäude und der Kaimauer war ein großer Platz, auf dem vielleicht an die sechshundert Menschen standen. Es sollten noch mehr
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