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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte
Autoren: Ian Banks
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Holzschemel neben Großvater.
    »Wieder einmal auf dem Weg, um die Orgel zu spielen, stimmt’s?« erkundigte er sich.
    »Ja, Großvater«, erwiderte ich.
    Er schaute nachdenklich drein. »Gut«, sagte er und nickte bedächtig. »Du solltest Dinge tun, die dir Spaß machen, Isis«, erklärte er und tätschelte mir die Hand. »Dir ist das Privileg gewährt worden, Zeit zu haben, um dich auf deine Rolle unter uns vorzubereiten, wenn ich einmal nicht mehr bin…«
    »O Großvater«, protestierte ich, und wie immer war mir unwohl bei diesem Thema.
    »Schon gut, schon gut«, sagte er beschwichtigend und tätschelte mir abermals die Hand. »Irgendwann einmal muß es geschehen, Isis, und ich bin bereit, und ich werde glücklich gehen, wenn die Zeit gekommen ist… aber was ich sagen will, ist, du solltest diese Zeit nutzen, und sie nicht nur nutzen, um zu studieren und in der Bibliothek zu sitzen und zu lesen…«
    Ich seufzte und lächelte milde. Ich kannte diese Argumentation schon.
    »… statt dessen solltest du dein Leben genießen, wie es jungen Menschen ansteht, du solltest die Gelegenheit zu leben beim Schopfe packen, Isis. Es bleibt noch genug Zeit, die Bürde der Pflicht und der Verantwortung zu tragen, glaub mir, und ich möchte einfach nicht, daß du eines Morgens, wenn ich nicht mehr bin und du die ganze Last der Gemeinde auf deinen Schultern trägst, aufwachst und feststellt, daß du niemals Zeit hattest, einfach nur sorgenfrei das Leben zu genießen, und nun ist es zu spät, verstehst du?«
    »Ich verstehe, Großvater.«
    »Ah, aber verstehst du wirklich?« Er sah mich durchdringend an. »Wir alle haben selbstsüchtige, sogar animalische Triebe in uns, Isis. Sie müssen im Zaum gehalten werden, aber man muß ihnen auch Tribut zollen. Es ist gefährlich, sie zu ignorieren. Eventuell könnte es dir helfen, einmal ein besseres und selbstloseres Oberhaupt dieser Gemeinschaft zu sein, wenn du dich jetzt ein wenig selbstsüchtiger verhalten würdest.«
    »Ich weiß, Großvater«, erwiderte ich und setzte mein gewinnendstes Lächeln auf. »Aber Selbstsucht kann sich in den verschiedensten Formen zeigen. Ich gebe mich ganz schamlos dem Genuß hin, wenn ich in der Bibliothek sitze und lese oder ausgehe, um die Flentrop zu spielen.«
    Er seufzte kopfschüttelnd und schmunzelte. »Nun, aber vergiß nur nie, daß es dir erlaubt ist, Spaß zu haben.« Er tätschelte meine Hand. »Vergiß das nie. Wir glauben an die Glückseligkeit des einzelnen und der Gemeinschaft; wir glauben an die Freude und die Liebe. Auch dir steht dein Anteil daran zu.« Er ließ meine Hand los und musterte mich eingehend von Kopf bis Fuß. »Du siehst gut aus, junge Dame«, erklärte er mir. »Du siehst gesund aus.« Seine grauen, buschigen Augenbrauen zuckten. »Du freust dich wohl schon auf das Fest, stimmt’s?« fragte er, und seine Augen blitzten schelmisch.
    Ich reckte das Kinn hoch, etwas verlegen unter dem Blick des Gesegneten Salvador.
    Ich vermute, ich muß mich irgendwann einmal beschreiben, und dieser Moment scheint so gut geeignet wie jeder andere, um es endlich hinter mich zu bringen. Ich bin etwas größer als der Durchschnitt und weder dünn noch dick. Mein Haar trage ich stets kurz; es wächst ganz glatt, wenn man es läßt. Es ist überraschend blond für meine Hautfarbe, deren Ton in etwa meiner ethnischen 3:1-Mischung entspricht (obgleich ich mir, wie ich gestehen muß, in meinen eitleren Momenten gern damit schmeichle, ich hätte mehr als meinen gerechten Anteil von Großmutter Aasnis Himalaja-Schönheit geerbt); meine Augen sind groß und blau, mein Nase ist zu klein, und meine Lippen sind zu voll. Außerdem neigen sie dazu, ein klein wenig offenzustehen, so daß man meine nicht sonderlich bemerkenswerten Zähne sehen kann, wenn ich den Mund nicht bewußt fest geschlossen halte. Ich glaube, ich habe mich körperlich recht spät entwickelt, ein Prozeß, der nun endlich abgeschlossen ist. Zu meiner großen Erleichterung sind meine Brüste nicht übermäßig angeschwollen, auch wenn meine Taille schmal geblieben ist, während sich meine Hüften verbreitert haben; jedenfalls ist nun endlich ein volles Jahr verstrichen, ohne daß man mein Aussehen – zumindest in meiner Hörweite – als »knabenhaft« bezeichnet hat, was schon ein Segen ist.
    Ich trug ein weißes Hemd – natürlich gegengeknöpft –, eine schmalgeschnittene, schwarze Hose und eine lange, schwarze Reisejacke, die zu meinem breitkrempigen Hut paßt. Mein Bruder
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