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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte
Autoren: Ian Banks
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meines Onkels Bruder James (der seit zwei Jahren Missionsarbeit in Amerika leistet). Die Zwillinge sind in meinem Alter, neunzehn Jahre. Als ich mich hinsetzte, standen sie beide auf, schluckten eilig das gebutterte Brot herunter, das sie gerade im Mund hatten, wünschten mir einen guten Morgen und kehrten dann wieder zu ihrer Aufgabe zurück, die Zacken auf der langen Papierrolle zu zählen, sie in Punkte und Striche zu übersetzen und diese dann in Gruppen zusammenzufassen, die für Buchstaben standen.
    Gewöhnlich wurde einem jüngeren Kind die Aufgabe übertragen, jeden Abend den langen Papierstreifen vom Woodbeanschen Haus abzuholen, damit er entschlüsselt werden konnte. Etliche Jahre war dies meine Aufgabe gewesen – ich bin ein paar Monate jünger als die Zwillinge, und obgleich ich die Auserwählte Gottes bin, wurde ich, wie es sich gehört, so aufgezogen, daß ich Demut im Angesicht des Schöpfers wahrte und einiges dieser Demut durch das Verrichten alltäglicher, simpler Arbeiten erlernte.
    Ich erinnere mich nur zu gern an meine Telefonrollendienste zurück. Obgleich der Weg zu dem Haus auf der anderen Seite der Brücke bei schlechtem Wetter – besonders in der winterlichen Dunkelheit, wenn man eine im Wind schaukelnde Laterne über die baufällige Eisenbrücke tragen mußte und unter einem der angeschwollene schwarze Fluß rauschte – recht beschwerlich sein konnte, wurde ich bei den Woodbeans für gewöhnlich mit einer Tasse Tee und einem Bonbon oder einem Keks belohnt, aber mehr noch war da die Faszination, einfach nur in diesem Haus zu sein, mit seinen strahlenden elektrischen Lampen, die jeden Winkel des Zimmers erhellten, und der alten Musiktruhe, die das Wohnzimmer mit Musik aus dem Äther oder von Schallplatten erfüllte. (Mr. Woodbean, der eine Art Mitläufer unseres Glaubens ist, zieht die Grenze beim Fernsehen – seine Konzession an Großvaters Ablehnung der modernen Welt).
    Ich hatte Anweisung, nicht länger als nötig im Hause der Woodbeans zu verweilen, aber wie den meisten von uns, denen der Telefonrollendienst oblag, fiel es mir schwer, der Versuchung zu widerstehen, eine Weile zu bleiben, um in jenem strahlenden, betörenden Licht zu baden, der sonderbaren weit entfernt klingenden Musik zu lauschen und dabei jene Mischung aus Unbehagen und Verlockung zu verspüren, die wohl alle jungen Luskentyrianer empfinden, wenn sie mit moderner Technologie konfrontiert werden. Auf diese Weise lernte ich auch Sophi Woodbean kennen, die wahrscheinlich meine beste Freundin ist (noch vor meiner Cousine Morag), obgleich sie die meiste Zeit unter den Seichten verbringt und – wie ihr Vater – nur halb errettet ist, wie mein Großvater es nennen würde.
    Cassie hakte eine weitere Gruppe von Signalen ab und schaute auf die Standuhr in der Ecke.
    Es war fast sechs Uhr. Wenn die Telefonrolle nicht den Eindruck vermittelte, als würde sie ein besonders dringendes Signal enthalten, dann würde Bruder Malcolm die Zwillinge alsbald zu ihrer Arbeit auf den Feldern rufen, wo vermutlich schon bis zu einem Dutzend andere Mitglieder unseres Ordens ihrem Tagwerk nachgingen. Ganz am Ende des Tisches versuchten die Kinder im Grundschulalter zu essen, während sie gleichzeitig fieberhaft untereinander die Hausaufgaben abschrieben, bevor Bruder Calum die Glocke läutete und der Unterricht im Herrenhaus auf der anderen Seite des Hofes begann. Die älteren Kinder schliefen höchstwahrscheinlich noch; der Bus, der am Ende der Auffahrt hielt, um sie zur Gerhardt Academy in Killearn zu bringen, kam erst in anderthalb Stunden. Astar – Callis Schwester – war vermutlich gerade damit beschäftigt, die Betten zu machen und die schmutzige Wäsche einzusammeln, während Indra, ihr Sohn, wahrscheinlich an irgendeiner Rohrleitung oder einer Schreinerarbeit herumwerkelte, so er sich nicht um das Festtags-Ale kümmerte, das in dem von Hopfengeruch erfüllten Brauhaus in der Scheune am Westende des Hofes zubereitet wurde. Allan, mein ältester Bruder, saß aller Wahrscheinlichkeit nach bereits im Gemeindebüro – das ebenfalls im Herrenhaus untergebracht war –, wo er sich um die Buchführung des Hofs kümmerte und Schwester Bernadette oder Schwester Amanda Briefe zu tippen gab.
    Ich beendete mein Frühstück, reichte die Teller Bruder Giles, der an jenem Tag Abwaschdienst hatte, verabschiedete mich von allen in der Küche – während Schwester Anne mir noch fürsorglich einen Apfel und zwei in Butterbrotpapier gewickelte
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