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Die Asche der Erde

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde
Autoren: Eliot Pattison
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dennoch. »Im Innern sind wir noch dieselben«, sagte er und neigte abermals den Kopf. »Was ist heute passiert?«
    »Wir sind in der alten Senkgrube auf eine Leiche gestoßen.«
    Jonah zuckte die Achseln. »Die Toten dürften dir doch gewiss keine Angst mehr einjagen.«
    »Nein«, räumte Hadrian ein. »Was mich erschreckt hat, waren die Kinder. Sie haben schon wieder mit einer Henkerschlinge herumgespielt.«
    Jonah nickte traurig und wissend.
    »Nichts, was ich in all den Jahren getan habe, hat auch nur das Geringste genützt.« Das Geständnis kam Hadrian wie von selbst über die Lippen, als hätte etwas tief in ihm es hinausgestoßen. Seine Verzweiflung war wie eine lebendige Kreatur, die sein Herz auffraß. »Ich habe mir immer vorgemacht, ich hätte aus einem bestimmten Grund überlebt.Das war gelogen. Und die Überzeugung, ich könnte etwas bewirken, war die größte Lüge von allen.«
    Nach einem Moment nahm Jonah seine Hand und ließ eine vertraute Achatscheibe hineinfallen, ein Meditationsstein, der im Laufe vieler Jahre glatt gerieben worden war. »Ich leihe ihn dir«, sagte Jonah. »Geh zurück in deine Zelle, und benutze ihn. Erforsche dein Inneres. Hör auf, deinen Gefühlen zu trauen. Die Kolonie braucht dich mehr als je zuvor. Und lauf nicht dauernd weg. Falls du Sergeant Kenton weiterhin so viele Anlässe lieferst, dich zu verprügeln, wird er dir irgendwann die Knochen brechen.«
    »Ich habe eingewilligt, dich zu bespitzeln, Jonah«, beichtete Hadrian und schaffte es nicht, dem alten Mann, der ihm so viel bedeutete, dabei in die Augen zu sehen. »Buchanan startet eine neue Kampagne, um sich aller zu entledigen, die ihn nicht unterstützen.«
    »Deshalb habe ich ja dafür gesorgt, dass du bei mir wohnen wirst.«
    »Er traut dir nicht.«
    »So wenig wie ich ihm.« Jonah legte Hadrians Finger um den Stein. »Aber er ist vollständig auf mich angewiesen. Und du und ich werden uns gemeinsam überlegen, worüber du ihm Bericht erstatten kannst. Ein zweites Tagebuch ist gar keine so schlechte Idee. Wenn er das Leben unbedingt wie eine Partie Schach angehen will, ist er uns nicht gewachsen. Er hat keinen Sinn für Raffinesse.«
    »Du willst einfach nicht erkennen, wie gefährlich er ist.«
    Jonah reagierte wiederum mit gelassenem Lächeln. »Ich weiß, wie ich mit unserem Gouverneur umgehen muss.« Er wies mit ausgestrecktem Finger auf Hadrians Herz. »Wir haben uns nicht geändert«, beharrte er. »Jedenfalls nicht an den wichtigen Stellen.«
    »Ich finde zu diesen Stellen keinen Zugang mehr«, erwiderteHadrian, dem sich die Kehle zuschnürte. »Und ich will nicht sein, was aus mir geworden ist.« Er fuhr sich mit der Hand über das struppige blonde Haar. »Die einzige Hoffnung, die ich noch habe, alter Mann, ist die Hoffnung auf deine Fähigkeit zur Zuversicht.«
    Jonah winkte ihm, er solle ihm hinaus auf die Veranda folgen. Der Ausblick war spektakulär: Unterhalb erstreckte sich die Stadt, im Norden das riesige schimmernde Binnenmeer, im Süden die Ställe und Felder, eingerahmt von karmesinrot gestreiften Hügeln.
    »Das ist die bisher beste Ernte«, sagte der alte Mann mit weit ausholender Geste in Richtung der Felder. »Mit Mehrertrag«, betonte er.
    Hadrian sah ihn an. Er wusste, wie sorgfältig Jonah seine Worte zu wählen pflegte. »Du meinst, es ist genug, um einen Teil ins Umland der Kolonie zu liefern.«
    »Ich habe dem Gouverneur gesagt, dass gleichzeitig mit der neuen Ziegelfabrik, die du und ich für ihn bauen sollen, ein weiteres Projekt in Angriff genommen werden muss. Unsere Brücke.«
    Als Hadrian begriff, was das bedeutete, beschleunigte sich sein Herzschlag. Sie träumten schon seit Jahren von einer Brücke über die steile Schlucht, damit die Reise zu den Camps der Unberührbaren nicht mehr einen ganzen Tag in Anspruch nehmen würde.
    »Unsere Brücke!«, wiederholte Jonah freudig. »Der Anfang der neuen Welt, nach der du und ich uns gesehnt haben.« Er kehrte an seinen Tisch zurück, durchstöberte einen Stapel Papiere und zog schließlich den Entwurf einer hölzernen Auslegerbrücke hervor. »Buchanan hat sich bereiterklärt, dass die ersten Fuhrwerke, die sie überqueren, Getreidetransporte für die Camps sein werden! Für manche der Ältesten wird das den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten!«
    Hadrian sah das Funkeln in Jonahs Augen. Vor allem würde es den Kontakt zwischen Jung und Alt bedeuten, der die lange schwärenden Wunden heilen könnte, und eine Freisetzung der
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