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Die Asche der Erde

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde
Autoren: Eliot Pattison
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Wissensflut, die sich während der vielen Jahre in den Camps aufgestaut hatte.
    »Du siehst also, es wird bereits besser, mein Sohn«, sagte Jonah und hielt inne, um eine verwelkende Blüte von einer der Topfrosen zu pflücken, die er auf der Veranda zog. »Du und ich, wir
werden
etwas bewirken. Das hier ist der Weg zur Veränderung. In den Camps gibt es Ingenieure, Lehrer und Dichter. Sobald wir ihnen die Freiheit ermöglichen, wird alles anders. Wir werden eine neue Schule errichten, sogar ein College, und du wirst der Leiter sein. Es musste erst das finstere Mittelalter kommen, bevor es eine Renaissance geben konnte.«
    Hadrian hatte ihn selten so beseelt erlebt, so glücklich. Jonah war seit fast zwei Jahren nicht mehr in der Lage gewesen, die anstrengende Reise zu den Camps anzutreten. Er wusste nicht, wie verzweifelt die Lage dort inzwischen sein mochte oder wie viele ihrer betagten Freunde gar gestorben waren. Und er kam nicht mal ansatzweise auf den Gedanken, dass Buchanan ihn womöglich nach Strich und Faden belog. Doch beim Blick in seine strahlenden Augen brachte Hadrian es einfach nicht übers Herz, ihn darauf anzusprechen. »Eine Renaissance«, wiederholte er und rang sich ein Lächeln ab. Dann ließ er sich von Jonah umarmen.
     
    Die Hütte war von blühenden Kletterpflanzen bedeckt und von einst gepflegten, aber längst überwucherten Kräuterbeeten umgeben. Als Hadrian seinen Armvoll Feuerholz an der steinernen Schwelle ablegte, erschien eine Frau im Eingang und nickte ihm bekümmert und zugleich dankbar zu. Sie war haarlos, verhärmt und weit vor ihrer Zeit gealtert, wenngleichihre hohen Wangenknochen und die auffallend grünen Augen ihn daran erinnerten, dass sie damals in der alten Welt ein Mannequin gewesen war. Er reichte ihr ein Dutzend Blätter frisch gebleichten Papiers, das er von einem Schreibtisch des Regierungsgebäudes gestohlen hatte. »Für deine Gedichte, Nelly«, sagte er.
    Drinnen, auf einem Strohlager unterhalb des einzigen Fensters, lag ein alter Mann mit asiatischen Gesichtszügen. Seine mühevollen Atemzüge waren lang und rasselnd, und sein Blick ging ins Leere. An einem Hocker neben ihm lehnte das lebensechte, beinahe fertiggestellte Gemälde einer Drossel auf einem Weidenzweig. »Er hat schon seit Tagen keinen Pinsel mehr in die Hand genommen«, sagte die Frau über Hadrians Schulter hinweg. »Ich versuche, ihn zu füttern, aber er sagte, es schmeckte wie Matsch. Das ist alles, was ich habe.«
    Hadrian sah eine Holzschüssel auf dem Boden stehen, halb gefüllt mit einer gelben klebrigen Substanz, einer Schleimsuppe aus Rohrkolbenwurzeln. Letzten Winter hatte Nelly den geliebten Hund getötet, um ihren Ehemann zu ernähren, und behauptet, es sei Eichhörnchenfleisch. Den ganzen Sommer lang hatte der kurzsichtige alte Künstler, ein früherer Fernsehreporter, bei jeder Bewegung im Schatten den Namen des Hundes gerufen und gelacht.
    »Falls ich heute Nachmittag weg kann, müsste ich zum Abendessen ein paar Kaulquappen auftreiben können«, sagte die Frau.
    Noch während sie sprach, explodierte Hadrians Bauch förmlich vor Schmerz.
    »Hoch mit dir, du Hurensohn!«, herrschte Kenton ihn an.
    Hadrian richtete sich keuchend auf und hielt sich den Leib. Der Sergeant stand in der Dämmerung über ihm und drehte das Ende des Schlagstocks in der Handfläche. Lucas Buchanan lehnte soeben ein Fahrrad an einen Baum.
    »Hör auf zu träumen!«, befahl der Gouverneur.
    Doch Hadrian hatte nicht geträumt, während er wartend in der Senke lag. Er hatte einfach nur seinen letzten Besuch in den Camps an sich vorüberziehen lassen.
    Der Gouverneur nahm eine Spitzhacke und eine Laterne von dem Stapel Werkzeuge, der dort im Schatten lag, schickte Kenton zu einem großen Felsblock am Straßenrand und winkte Hadrian, ihm nach unten zu folgen. Boone wagte nicht zu fragen, weshalb Buchanan beschlossen hatte, ihm höchstpersönlich bei der schaurigen Aufgabe behilflich zu sein. Er nahm sich eine Schaufel und eilte den Pfad hinunter. Dabei entging ihm nicht, dass Kenton ihm von seinem Wachposten aus einen lodernden Blick zuwarf. Zwei eigenmächtige Ausflüge am selben Tag bedeuteten später am Abend eine doppelte Tracht Prügel.
    Die beiden Männer machten sich fieberhaft an die Arbeit und legten den Leichnam in der Grube frei, während es dort unten schnell dunkler wurde. Ein Arm, eine Hüfte, ein Bein, ein Fuß. Der Tote trug robuste Reisekleidung und eine lederne Gürteltasche, wie sie bei Trappern
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