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Die Ankunft

Die Ankunft

Titel: Die Ankunft
Autoren: Johanna Marthens
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frei.«
Ich hatte keine Ahnung, warum Leif heute so seltsam war. »Die nächste Werkstatt ist in Moosberg, das ist fünfundzwanzig Kilometer entfernt. Das kannst du ihm nicht antun.« Seit meinem dritten Arbeitstag in der Tankstelle war ich per Du mit Leif. Ich hatte damals festgestellt, dass die Hälfte der Alkopopflaschen in den Regalen bereits weit über ihrem Verfallsdatum lagen, was ihm gar nicht aufgefallen war. Wir überlegten kurz, ob wir sie wegwerfen oder weiterhin anbieten sollten. Um zu prüfen, ob sie noch genießbar waren, hatte ich eine davon geöffnet. Sie war genießbar. Die nächste und übernächste ebenfalls. Eine Kiste genießbarer Flaschen später wusste ich nicht nur, dass Leif eine extrem aufnahmefähige Blase hatte, sondern ich konnte auch nicht mehr zwischen Sie und Du unterscheiden, so dass wir schließlich beim Du blieben. Das bedeutete nicht, dass wir nun ständig private Details aus unseren Leben austauschten, unser Verhältnis blieb ein rein geschäftliches.
Leif zuckte mit den Schultern, als würde ihn das nicht interessieren. »Training ist gut. Er sieht aus, als könne er es gebrauchen.«
Er wollte sich abwenden, doch in diesem Moment fiel mir der kleine Zwischenfall vom Morgen ein. Ich hatte einem kleinen Jungen, der weinerlich auf seine Mutter wartete, die auf dem Klo festsaß, einen Schokoriegel geschenkt, was Leif mit kritischem Blick beobachtete. Sobald der Junge mit seiner Mutter wieder im Auto saß, rügte er mich und sagte, dass er nicht jeden Fremden durchfüttern könne, egal wie niedlich und traurig er sei. Und er kündigte an, mir den Euro von meinem Lohn abzuziehen. Ich muss zugeben, dass ich ein paar drastische Worte für meinen Chef parat hatte, weil er bei einem kleinen, unglücklichen Jungen nicht einmal eine Ausnahme zuließ, aber das änderte nichts. Leif blieb bei seiner Meinung und ließ mich daraufhin links liegen. Möglicherweise wollte er mich bei diesem Fremden nun demonstrativ in meine Schranken weisen.
»Wenn du mich für meine Gutmütigkeit heute Morgen bestrafen willst, sehe ich das ein. Aber lass es nicht an dem Fremden aus. Er kann nichts dafür.«
Leif sah mich an, als hätte er keine Ahnung, wovon ich rede. »Wir leben in gefährlichen Zeiten, Moona«, sagte er. »Wir können nicht jedem Fremden vertrauen. Er könnte einer jener Grabflüchter sein und Not und Elend über uns bringen. Du weißt, was passiert, wenn du einem von denen hilfst.« Er sah auf, denn hinter ihm waren Schritte zu hören. Der Fremde kam.
Leif wandte sich ihm zu. »Die Werkstatt hat keine Zeit, sich um Ihren Wagen zu kümmern. Nehmen Sie ihn und fahren Sie davon«, sagte er harsch. Dann ging er zurück in den Laden.
Der Fremde sah mich mit großen Augen an, die mich ein wenig an den traurigen Blick des Jungen vom Vormittag erinnerten.
»Dann muss ich wohl wieder schieben«, seufzte der Mann. »Wie weit ist es bis zur nächsten Werkstatt?«
Ich musterte sein durchgeschwitztes Hemd, die staubigen Schuhe und seine engen Jeans. Das Bild mit der Badehose kam mir wieder in den Sinn. Er war bestimmt kein Bandit. Und auch keiner von den Grabflüchtern, vor denen sich die ganze Nation fürchtete. Seit Vampire vor einiger Zeit ihre Verstecke aufgegeben und aufgrund des ganzen Booms in Literatur, Film und Fernsehen den Mut gefasst hatten, den Untergrund zu verlassen und an die Oberfläche zu kommen, hatte sich noch keiner der so genannten Grabflüchter, wie sie von der Regierung genannt wurden, in unser Dorf verirrt. Ich wusste, dass sie sich in den großen Städten wie Berlin, Köln oder Hamburg tummelten, von dort gab es immer wieder Meldungen über Vampirüberfälle und es fanden Razzien statt, um sie in die eigens für sie angelegten Dörfer in abgelegenen Landstrichen, in so genannte Reservate, zu bringen. Für mich klang es eher nach Konzentrationslagern, und ich wusste, dass in vielen Orten Demonstrationen für die Freiheit der Untoten stattfanden, meistens während auf der anderen Straßenseite Gegendemonstranten die sofortige Vernichtung der Blutsauger forderten. Ich denke, was die meisten Menschen schockte, war die Tatsache, dass die Vampire eigentlich gar keine unheimlichen Nachtwesen waren, wie bisher immer angenommen. Sie lebten einfach unter uns, waren schon seit Jahren unsere Nachbarn und Kollegen. Und plötzlich, sprichwörtlich über Nacht, denn der erste Vampir outete sich in einer nächtlichen Talkshow im Fernsehen, stellte sich heraus, dass sie Monster waren. Ich weiß
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