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Die Ankunft

Die Ankunft

Titel: Die Ankunft
Autoren: Johanna Marthens
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merkwürdigerweise waren auch die im Ausguss gelandet.)
»Seit wann schieben Sie ihn denn?«, fragte ich, bevor er sich auf den Weg machen konnte, und setzte einen mitleidigen und fachfraulichen Blick auf.
Er winkte ab. »Ich habe keine Ahnung. Irgendwo vor dem Schild mit dem Naturpark drauf. Das habe ich gesehen, als ich noch Kraft zum Schieben hatte, deshalb kann ich mich daran erinnern. Der Rest verschwindet im Nebel.« Er gab sich Mühe, mit fester Stimme zu sprechen, aber ich konnte hören, dass er am liebsten gekeucht hätte. Er meinte sicherlich das Schild, das in den Müritzpark einlud. Das war neunzehn Kilometer von hier entfernt. Alle Achtung. Wenn ich mein Auto neunzehn Kilometer schieben müsste, würde ich nicht schwitzen, sondern wäre völlig zerschmolzen. Aber wahrscheinlich wäre ich gar nicht erst in diese Lage geraten. Wenn eine Achtzehnjährige mit langen blonden Haaren am Straßenrand mit einem kaputten Auto liegenbleibt, braucht sie es keine zwei Meter weit zu schieben, weil ständig jemand anhält, der ihr helfen will.
»Soll ich inzwischen volltanken?«, fragte ich.
»Das wäre nett.« Er sah mich dankbar an, wobei ihm ein Schweißbächlein in den Mundwinkel floss, das er schnell wegwischte. Danach drehte er sich um und lief zu den Toiletten.
    Ich schraubte den Tankdeckel ab und wollte gerade anfangen, das älteste und umweltunfreundlichste Benzin, das es gab und als einziges noch das alte Auto des Fremden antreiben würde, einzufüllen, als ein Schatten neben mich fiel.
»Was wollte der Mann?«, fragte Leif mit seiner dunklen Stimme.
Ich erschrak ein wenig, als er so plötzlich neben mir stand, doch das wollte ich meinem Boss nicht zeigen. Ich gab mir Mühe, meine Hände unter Kontrolle zu halten, legte die Zapfpistole im Tankeingang ab, so dass das Benzin ruhig fließen konnte, richtete mich auf und sah Leif direkt in die Augen. »Er braucht Benzin, wie 99,9 Prozent der Leute, die an einer Tankstelle direkt vor einer Zapfsäule anhalten. Offenbar ist es ihm unterwegs ausgegangen.«
Leif runzelte die Stirn. »Wenn der Tank voll ist, soll er wieder fahren.«
»Ich werde es ihm ausrichten, für den Fall, dass er nicht von selbst auf die Idee kommt«, antwortete ich. Ich wunderte mich, dass Leif sich so für den Fremden interessierte, denn normalerweise nahm er von den Reisenden kaum Notiz. Er saß hauptsächlich in seinem Büro, wenn ich im Laden stand, und regelte das Geschäft, bestellte Waren oder diskutierte mit dem Klempner über die Rechnungen. Oder er kümmerte sich um die Geschicke unseres Ortes, der Mullendorf hieß, meine Heimat war und fünf Kilometer von der Tankstelle entfernt landeinwärts lag. Dort lenkte er seit sechs Jahren als Bürgermeister die Geschicke der Gemeinde. Oft war er stundenlang nicht zu sehen und überließ mir voll und ganz das Geschäft. Außer in den Ferien, dann stand Leif wie ein kleiner Junge vor der Tankstelle, sah den Autos hinterher, beobachtete lächelnd die Reisenden, vor allem die Frauen, scherzte mit den Kindern und flirtete mit deren Müttern. Aber zurzeit waren keine Ferien, deshalb war es sehr ungewöhnlich, dass er sich für einen einzelnen Reisenden interessierte.
»Gib ihm, was er will, Moona, dann soll er verschwinden«, wiederholte Leif, bevor er mit seinen langen Beinen zurück zum Laden ging. Er war nicht riesig, aber größer als die meisten Männer in Mullendorf. Ich denke, das war auch ein Grund, warum er als Bürgermeister gewählt wurde. Jeder Mann musste zu ihm aufblicken, was ihm einen psychologischen Vorteil verschaffte. Die Wiederwahl war einfacher. Da hatte er schon so viel für Mullendorf erreicht, dass niemand mehr seine Kompetenz und Führungsfähigkeiten anzweifelte.
Er warf einen misstrauischen Blick zu den Toiletten, als ob er Röntgenaugen hätte und sehen könnte, was hinter den Mauern vor sich ging. Die Sonne blendete in der Scheibe, doch ich beobachtete, wie er zum Tresen des Bistros ging und ein altes Brötchen aus der Auslage nahm. Er wollte es zur Seite legen, doch dann sah er zu mir. Ich drehte mich schnell weg und ließ meinen Blick über die Autobahn schweifen, die hinter einem niedrigen Wall lag und auf der die Wagen in unregelmäßigen Abständen vorüber rauschten. Ich wusste, was er vorhatte. Wenige Sekunden später erwischte ich ihn dabei, wie er Kaspar, meinem Hund, das Brötchen zuwarf. Ich konnte die braune Schnauze erkennen, die im Sprung hinter dem Tresen hervorkam und mit einem leckeren Käsebrötchen im
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