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Die andere Haut: Roman (German Edition)

Die andere Haut: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Haut: Roman (German Edition)
Autoren: Carmen Schnitzer
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laufen, da der Wasserstand des Flusses zu niedrig ist. Der Guide Luis reicht allen Gummistiefel, dann tauchen sie ein in diese andere, die grüne und feuchte Welt. Orchideen, Palmen, Lianen. Die wuchernde Üppigkeit verschlägt Lara den Atem. An einer Lichtung Bananen und Ananas. Vogelspinnen, die träge auf ihre nächste Beute warten. All ihre Wut und Traurigkeit, ihre Zweifel werden fortgeschwemmt, verschwinden in der Tiefe des Waldes, verflüchtigen sich im Nebel, der zwischen den Blättern hängt.
    In der Ferne brüllen Affen und Papageien. Unter ihren Füßen knacken Äste, ehe der Boden sumpfiger wird, und sie alle knietief im Schlamm versinken. Lara verknotet lose ihr nasses Haar im Nacken und setzt gleichmäßig einen Fuß vor den anderen. Die Erschöpfung schleicht sich so leise und langsam in ihre Glieder, dass sie es kaum bemerkt. Doch als sie am Ziel ankommen, fühlt sie sich angenehm ruhig. Legt sich bis zum Abendessen in die Hängematte vor ihrer Bambushütte und schließt die Augen. Lauscht den sirrenden Grillen und Vögeln und all den Geräuschen, die sie nicht einordnen kann. Alles ist so groß und weit, dass sie darin versinkt. Die Schrammen an ihrer Seele werden zu Vogelspuren im Sand, die der Wind verwischt und vergessen lässt. Sie wirft sich hinein ins Nichts und verharrt darin, so lange es geht.
    Beim Essen später bleibt sie ungewöhnlich stumm. Lauscht den anderen bei ihren Plaudereien, beobachtet Jasmin, die Miguels Komplimente genießt, was Thorsten augenscheinlich missfällt. Er verzieht das Gesicht und legt den Arm um seine Frau. Die sieht ihn an und doch durch ihn hindurch.
    Plötzlich glaubt Lara zu frieren. Und dann ist da doch wieder dieser ziehende Schmerz. David. Ein paar Tage noch, bis sie ihm wieder gegenübersteht. Gibt es ein Zurück? In ihr altes Leben, ihr Glück?
    Sie entschuldigt sich rasch, diese Müdigkeit, verzeiht, bis morgen! Dann zieht sie sich zurück in ihre Hütte, ins Bett, stopft ihr Moskitonetz zurecht und liest mit Hilfe ihrer Taschenlampe den mitgebrachten Liebesroman, bis ihr die Augen zufallen und der nächste Traum auf sie wartet, in dem sie friert und tanzt im Schnee, bis ihr Flügel wachsen und sie der Sonne entgegentreibt.
    Am kommenden Tag wandern sie durch den Schlamm und das Dickicht des Waldes. Baden in Lagunen. Picken Ameisen aus einem Ast, die nach Zitrone schmecken, malen sich Naturfarben ins Gesicht, lassen Tausendfüßler über die Hände krabbeln und schwingen sich an Lianen ins Grüne. Jean-Luc und Sébastien hören nicht auf, einander zu fotografieren, in Tarzanposen, wieder und wieder, bis die Gruppe sie aufzieht, Jungs, nun ist es aber mal gut!
    Auch Lara fotografiert ununterbrochen, doch das scheint niemandem weiter aufzufallen.Aras, Helikonien, einen schillernden Käfer auf ihrer Hand oder auch nur ihre schlammverklebten Stiefel. Der Wunsch, alles festzuhalten, jeden Sinneseindruck, jede Lebenssekunde, steckt tief in ihr, und so sehr ihr auch bewusst ist, welcher Illusion sie mit ihrem Tun verfällt, sie kann es nicht lassen. Beinahe ist sie froh, als ihre Akku-Anzeige blinkt und sie zum sparsamen Abdrücken mahnt. Momente vergehen, darin liegt ja gerade ihr Zauber, nicht wahr? Was bleibt, sind verblassende Bilder, die die Erinnerung wieder und wieder neu zeichnet und übermalt oder irgendwann ganz verlöschen lässt, so einfach ist das. Doch manchmal genügt ein Blick oder Geruch, und vermeintlich ist alles wieder da. Nur einem Foto gelingt dies in den seltensten Fällen, zumindest nicht den amateurhaften aus ihrer Kamera, die lediglich Krücken sind.
    Nachts am Fluss leuchten die Augen der Kaimane im Schein ihrer Taschenlampen wie magische Rubine.
„Unheimlich, was?“, findet Jasmin.
Lara nickt, obwohl sie die rot glänzenden Augen auf seltsame Weise beruhigen. Als passe da jemand auf sie auf in der Dunkelheit und leuchte ihr den Weg.

Kapitel 22
Abreise
    „Wer hatte bloß diese Idee?“, fragt David. Über seine halb gepackte Reisetasche hinweg sieht er Lara an.
Sie lacht. „Na du, oder?“
„Warum fahren wir nicht zusammen irgendwohin?“
Sie wundert sich über den plötzlichen Zweifel in seinem Blick. Sind sie sich nicht einig gewesen? Hatten sie sich nicht beide gefreut auf die Wochen allein und auch die Sehnsucht, die diese Trennung auf Zeit mit sich bringen würde? Nach beinahe zehn Jahren, noch einmal eine Illusion von Freiheit zu schmecken, von Abenteuer und Jugend, von Weite und Raum? In der großen Gewissheit, dass sie
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