Die andere Haut: Roman (German Edition)

im Bett. Davids Haut ist warm und riecht nach Juniregen.

Kapitel 19
Splitter-Welten
    E rinnerungsfetzen: Davids Hand in ihrem Haar an einem Sommertag im Weizenfeld. Ricardos Knie zwischen ihren Schenkeln. Ein Spielplatz in der  Nacht und David auf einer Schaukel. Lara vor ihm, umklammert von seinen Beinen. Tausend Sterne. Ricardo im Meer. Zwei Hände, die einander halten. Jan, schlafend, in Belmondos Pension. Pilar, die ihre große Liebe ziehen ließ und ihr Begehren im Keim erstickte.
    Lara versucht, ihr Denken und Fühlen zu ordnen, doch es bleibt eine Ansammlung von Puzzleteilen, die sich zu keinem schlüssigen Gesamtbild fügen.
    Puzzleteile? Scherben! Ihre Welt steht still, alles entgleitet ihr, schneidet ihr tiefer und tiefer ins Herz. Vielleicht ist dieses Blut und diese Dunkelheit die verdiente Strafe für ihr Spiel mit der Liebe, auch wenn sie es nie als solches empfunden hat. Es für wahrhaftiger hielt als all die Fesseln, die Menschen einander im Namen großer Gefühle anlegen, sich selbst anlegen lassen, beseelt von dem Glauben, man könne das Glück einfangen wie einen Sittich, konservieren wie rosigen Blütenduft. Hat sie geirrt, weil sie glaubte, diese Regeln und Bänder nicht zu brauchen? Über den Dingen zu stehen, ja zu schweben? Vielleicht. Doch sie würde wieder und wieder so handeln, das verbrannte, geschundene Herz in Kauf nehmen für all das, was vorher war.
    Sie zögert.Wäre es eben nur ihr eigenes verbranntes Herz. An diesem Punkt wird es schwierig, denn was, wenn ihr Gegenüber den Preis nicht zu zahlen bereit ist, über den sie so tollkühn verfügt? Hat sie David gedrängt, ihre Ansichten über Liebe und Treue zu teilen? Hat er nicht gewagt, ihr zu widersprechen, weil sein Verstand ihr folgte, während sein Herz ganz andere Dinge schrie? Hat sie seine Schreie nicht gehört? Und was, wenn sie es getan hätte? Hätte sie anders gehandelt?
    Ricardo ist der erste Mann, mit dem sie David … ja, was? Betrogen hat? Mit dem sie fremdgegangen ist? Ihr erster Seitensprung? Welch Worthülsen, die alle den Kern nicht treffen! Wir brauchen mehr Wörter, ein Lexikon der Empfindungen, eine Fibel des Glücks, eine Übersetzungshilfe für Ertrinkende. Unser Buch! Das nie geschrieben wurde. Sie weint. David!
    Lara weiß nicht, wie sie die Tage bis zu ihrer Heimreise aushalten soll. Überlegt, ihren Flug umzubuchen, aber das hälfe ja nichts, denn David bleibt noch in der Ferne, und die leere Wohnung, was sollte sie da?
    Dann natürlich der Gedanke: Was, wenn sie einfach bliebe? Ricardo anriefe oder Malin oder beide. Jan und Linda. Ihnen allen erklären, dass sie ihr Leben fortan mit ihnen teilen möchte. Hätten sie Platz für sie, hießen sie sie willkommen? Oder war sie nur Gefährtin für den Moment? Was überhaupt wäre das für eine seltsame Flucht?
    Erneut zieht es Lara ans Meer. Sie weint Tränen ins Wasser und versucht, die Freiheit zu fassen, die plötzlich vor ihr liegt wie ein Geschenk oder Fluch. Das Salz brennt auf ihrer zerkratzten Haut, doch fast genießt sie den Schmerz. Ihr ganzer Körper, ihr ganzes Ich, eine einzige große Wunde, die reingewaschen werden muss vom Schmutz und all den Erinnerungen, bis sie wieder unbedarft ist wie ein Kind.
    Nachts träumt sie von reglosen Schmetterlingen und verschlungenen Körpern im Nebel. Doch am nächsten Morgen hat sie keine Angst mehr, für mehrere Stunden nicht. Sie packt ihre Sachen, verlässt das Hotel und fährt zurück in die Hauptstadt. Tags darauf bucht sie den erstbesten Trip in den Dschungel, für den ihre Zeit und ihr Geld noch reichen. Versinken im Grün.

Kapitel 20
Die Liebe feiern
    „Was, ihr?! Warum das denn? Ich dachte, das wäre nichts für euch.“ So reagieren später Freunde und Familie, als Lara und David von ihren Hochzeitsplänen erzählen.
    „Plötzlich doch Lust auf diese bürgerliche Fessel?“, fragt, mit Ironie in der Stimme, Melek, bei der es schon drei Jahre zuvor so weit war. „Ihr wisst hoffentlich, was ihr da tut?“
    „Nun ja, wer weiß das schon, wir werden sehen.“ Lara umarmt die Freundin und lacht.
    Tatsächlich können David und sie es beide nicht erklären. Es ist Laras Geburtstag, sie sind in einem Ferienhaus in Italien, im Cinque Terre, zwischen La Spezia und Portovenere. Draußen regnet es plötzlich in Strömen, doch es ist weiterhin warm, und so bleiben sie auf ihrer Dachterrasse, blicken aufs Meer, bis sie so durchnässt sind, dass ihre Kleider an ihnen kleben und ihnen bei jeder Bewegung Wasser