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Die Amazonen

Titel: Die Amazonen
Autoren: Hedwig Appelt
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kombinieren. Ein Teil des Frauenheeres übernahm die Rolle von Lockvögeln. Sie lenkten die Goldhüter von den Schätzen ab und spielten mit ihnen ein lebensgefährliches Katz-und-Maus-Spiel, indem sie scheinbar flüchtend davon galoppierten und den herabstürzenden Greifen durch Hakenschlagen auswichen. Dazu mussten ihre Pferde schneller galoppieren, als der Greif fliegen konnte, und in den Pausen, die sich ergaben, wenn der Greif sich im Sturzflug fallen ließ, einen Vorsprung herauslaufen. Diese „Hasen“ unter den Amazonen wurden unterstützt von Bogenschützinnen, die außerhalb der wilden Verfolgungsjagd blieben und die fliegenden Goldgräber mit Pfeilschüssen vom Himmel holten. Sie mussten in schneller Folge schießen und sicher treffen, da die Pferde den |37| Renngalopp mit Hakenschlagen unmöglich über lange Zeit durchhalten konnten. Ein dritter Teil des Heeres hielt den Kämpfenden den Rücken frei und lud das Gold auf die Pferde. Auf ein Signal hin verschwand das gesamte Amazonenheer schnell wie der Blitz aus dem Terrain der Greifen.
    Auf dem Weg in ihr Heimatland passierten sie Gebiete von Menschenfressern, Werwölfen, Zauberern und Wegelagerern, aber ihnen geschah nichts, keiner griff sie an. Die Amazonen waren unantastbar geworden. Nicht in dem Sinn, dass man sie den Göttern gleichgestellt hätte. Sie waren vielmehr ob ihrer übermenschlichen Leistungen ausgegrenzt aus der Gemeinschaft von Menschen, zu der selbst noch Barbaren, Zauberer und Kannibalen gehörten. Niemand konnte sich mit ihnen vergleichen, keiner konnte und wollte es mehr mit ihnen aufnehmen. So gestaltete sich ihr Rückzug nach Themiskyra friedlich. Die Amazonen hatten ihre Ziele erreicht, sie kehrten unbesiegt und goldbeladen zurück, es gab nichts und niemanden auf der Welt, vor dem sie sich noch fürchten mussten.

Die Lösung der Nachwuchsfrage
    Doch die Heimkehr war kein Triumphzug, sondern überschattet von Zukunftssorgen. Die Frauen waren aus jedem Kampf siegreich hervorgegangen, aber sie hatten Verluste erlitten. Und sie stellten sich zu Recht die Frage, wie sie den Amazonenstaat erhalten sollten, wenn immer wieder Gefährtinnen im Kampf oder auf natürliche Weise starben und keine Nachfolgerinnen deren Platz einnahmen. Sie mussten für Nachwuchs sorgen, hatten sich aber andererseits ewige Jungfräulichkeit und Männerlosigkeit geschworen. Sie mussten einen Staat erhalten, dessen Existenz auf der Abwesenheit von Männern beruhte, gleichzeitig aber von ihrer Funktion als Erzeuger abhing. Dieses paradoxe Gesetz wiederholte sich im Schicksal jeder einzelnen Amazone, die |38| sich als jungfräuliche Tochter von Ares ihre Identität durch den Krieg erwarb, eine Identität, die von der Liebe notwendig zerstört würde. Das Verbot zu lieben war für den Amazonenstaat keine Extravaganz, sondern absolut identitätsstiftend. Das Dilemma war nur: Hielten sich die Amazonen an das Liebesverbot und blieben der Idee ihres Staates treu, ginge er aus Mangel an Staatsbürgerinnen zugrunde. Missachteten die Frauen aber das Gesetz, das sie zur Männerlosigkeit verpflichtete, hätte der Amazonenstaat trotz notwendiger Nachkommenschaft keine Existenzberechtigung mehr.
    Nun – die Amazonen waren überaus geschickt darin, Grenzen und Definitionen zu überschreiten. Die zwischen Mann und Frau, Möglichem und Unmöglichem, Liebe und Krieg. Und so lösten sie das Problem der Staats- und Selbsterhaltung auf eine für sie typische pragmatische Weise: Sie trennten Liebe und Sexualität so strikt, wie das gewöhnlich nur Männer tun können. Die Liebe blieb unvereinbar mit den Ideen des Amazonenstaates. Sie bedeutete Staatsgefährdung und Hochverrat, da sie jederzeit in die Herrschaft des Mannes über die Frau umschlagen und die schwesterliche Kampfgemeinschaft von innen her aushöhlen konnte. Sexualität dagegen wurde als Mittel zum Zweck der Kinderzeugung gutgeheißen. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmtheit war Teil der radikalen Emanzipation der Amazonen – nicht nur vom Mann, sondern auch von dem traditionellen Bild der Frau. Ihr Verständnis von Sexualität war sogar mit dem Schwur ewiger Jungfräulichkeit vereinbar. Für sie bedeutete Jungfräulichkeit ein Leben ohne Männer und außerhalb eheähnlicher Verbindungen, während sich die von Griechenland beeinflusste zivilisierte Welt den Verlust der Virginität nur in einer monogamen Ehe vorstellen konnte. Das bedeutete umgekehrt, dass eine Jungfrau in einer von Männern dominierten Gesellschaft
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