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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Autoren: Kai Meyer
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Swanetien. Plötzlich kam ihr ein entsetzlicher Gedanke.
    »Wo«, fragte sie langsam, »ist Morgantus jetzt?«
    Der Kamin hatte keine Rückwand mehr. In der Eingangshalle brannte kein Licht, und so war die schwarze Öffnung jenseits des erloschenen Feuers niemandem aufgefallen. Jetzt aber, als Gillian gezielt darauf zuging, bemerkte er den eiskalten Luftzug, der ihm entgegenschlug. Der Wind aus der Tiefe hatte die Asche in einem sternförmigen Muster über den Boden verteilt.
    Gillian stieg über die Reste der Feuerstelle hinweg. Noch vor gar nicht langer Zeit war er die geheimen Stufen hinabgestiegen, um Tess zu befreien. Jetzt aber kamen sie ihm wie ein vollkommen fremder Ort vor. Die Gewißheit, daß er bald Morgantus gegenüberstehen würde, veränderte seine Empfindungen.
    Vorsichtig begann er den Abstieg. Bis zu der Stelle, an der die Treppe eine Biegung nach rechts machte, schälte das Dämmerlicht von oben vage die Kanten der Stufen aus der Finsternis. Jenseits der Kehre aber verschwanden Treppe und Kellerraum in völliger Schwärze. Gillian hatte keine Lampe, nicht einmal eine Kerze, und so tastete er sich wie ein Blinder mit dem Schwert vorwärts. Einen Augenblick lang erwog er, nach oben zurückzukehren, um einen der silbernen Kandelaber zu holen. Dann aber sagte er sich, daß das Licht seinen Gegner warnen würde. Falls Morgantus sich tatsächlich im Leuchtturm aufhielt, war es durchaus möglich, daß er noch gar nicht bemerkt hatte, was im Schloß vorgefallen war.
    Gillian erreichte ebenen Boden, jenen Raum, in dem Charlotte das Mädchen eingesperrt hatte. Einmal stieß er sich an einer Säule heftig die Schulter, ansonsten aber fand er den Weg ohne Zwischenfälle. Der Raum mußte geradewegs in den Tunnel zur Leuchtturminsel übergehen, denn Gillian bemerkte keine Tür. Er ging einfach immer weiter geradeaus, tastete fächerförmig mit der Schwertklinge umher und stellte irgendwann fest, daß die Wände rechts und links nun enger beieinander standen. Gillian hatte in den Schächten und Tunneln der Wiener Unterwelt einen guten Orientierungssinn entwickelt, der ihn auch in diesem Dunkel nicht verließ.
    Allerdings verlor er allmählich sein Zeitgefühl, und so vermochte er nicht abzuschätzen, wie lange es dauerte, bis er endlich einen schwachen Lichtschein am Ende des feuchtkalten Korridors entdeckte. Es war kein Tageslicht, eher ein fahles Schimmern, wahrscheinlich aus dem Inneren des Leuchtturms.
    Gillian blieb einen Moment lang stehen und horchte. Abgesehen vom Rauschen der See, das durch die Tunneldecke drang, war nichts zu hören. Hin und wieder vernahm er das Geräusch tropfenden Wassers, Laute, die er im ersten Moment für Schritte hielt. Er verfluchte seine überreizten Sinne und setzte seinen Weg fort. Bald kam er schneller voran. Der Lichtschein wies ihm den Weg und ersparte ihm das Tasten mit dem Schwert.
    Schließlich erreichte er eine kurze Treppe, die zu einer offenen Luke in der Tunneldecke führte. Darüber wölbte sich ein düstergrauer Raum, ein zylinderförmiger, fünfzehn Meter hoher Schacht, um den ringsum eine Treppe aus Eisensprossen führte. Das Innere des Leuchtturms.
    Langsam und lautlos schob Gillian seinen Kopf durch die Luke. Niemand war zu sehen. Trotzdem glaubte er immer noch, daß er mit seiner Vermutung richtig lag. Charlotte hatte sich ohne jeden Zweifel hierher zurückgezogen; dies war ihr Versteck, ihr Unterschlupf, in dem sie damals schon den verstoßenen Daniel untergebracht hatte. Die Tatsache, daß Morgantus mittlerweile den dritten Tag im Schloß weilte, ließ darauf schließen, daß er das, worauf er aus war, noch immer nicht gefunden hatte. Folgerichtig würde er versuchen, von Charlotte zu erfahren, wo er danach suchen mußte.
    Es gab nur zwei Möglichkeiten, wo die beiden sich aufhalten konnten: entweder im Freien, auf den schroffen Felsen am Fuße des Turmes – oder aber auf seiner Spitze, dort, wo einst das Leuchtfeuer brannte.
    Gillian packte das Schwert fester und huschte die Metallstufen nach oben. Jede Sprosse war einzeln in der Turmwand verankert und maß eine Breite von anderthalb Metern. Ein Geländer gab es nicht. Gillian bemühte sich, nicht nach unten zu blicken. Es war keine wirkliche Höhenangst, die ihn quälte, keine Atemnot, kein Zittern. Und doch war er unsicherer, als er sich eingestehen mochte.
    Endlich gelangte er an die Decke des Turmes. Die metallene Falltür, die hinaus auf die Spitze führte, war geschlossen. Gillian zögerte einen
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