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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Autoren: Kai Meyer
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Moment, bevor er die Hand ausstreckte, um die Luke nach oben zu drücken; er wußte, dies war der Augenblick, in dem seine Anwesenheit bemerkt werden würde.
    Er gab der Falltür einen einzigen, kräftigen Schub. Krachend klappte das Schott nach außen, schlug auf den steinernen Rundgang der Turmspitze. Gillian sprang mit zwei großen Schritten ins Freie und riß das Schwert vor den Körper, um mögliche Schläge abzuwehren.
    Um ihn herum blieb die Zeit stehen.
    Die Turmkrone war rund, mit einem Durchmesser von vielleicht fünf Metern. Ein brusthohes Gittergeländer umfaßte die Plattform, deren größter Teil von einem Glaskäfig eingenommen wurde, sechseckig, drei Meter breit, darüber ein eisernes Dach. Früher hatte man hier mit Holz, Kohle und Reisig das Leuchtfeuer geschürt.
    Vogelkot bedeckte die Scheiben von innen und außen. Das Glas selbst war unversehrt, die Vögel waren durch einen Belüftungsspalt zwischen Scheiben und Dach ins Innere gelangt.
    Heute aber befanden sich keine Tiere in der Kuppel. Vielmehr erkannte Gillian durch das kotverschmierte Glas einen dunklen Schemen, einen menschlichen Umriß, der am Boden kauerte, inmitten einer kniehohen Masse aus Vogeldreck, Federn, Tiergerippen und den Resten alter Nester. Bei jeder Bewegung stoben Wolken aus giftigem Staub empor, umhüllten die Gefangene, drangen in ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund.
    Wie lange mochte Charlotte schon dort drinnen gefangengehalten werden – seit einem Tag, seit zweien? Gillian bezweifelte, daß sie noch zu retten war, selbst wenn es ihm gelingen sollte, sie zu befreien. Der ätzende Staub mußte längst in ihre Lungen gedrungen sein, zersetzte sie von innen nach außen.
    Morgantus stand vor der Glasluke der Leuchtkuppel, ein dürrer alter Mann in einem weiten Kapuzenmantel, abgesetzt mit schwarzem Pelz. Der scharfe Seewind, der den Leuchtturm umtobte, preßte die Seiten der Kapuze enger an Morgantus’ Wangen. Seine Augen waren im Schatten der zerzausten Pelzbesätze nur zu erahnen.
    Die Hand des Alten zuckte unter die wehenden Mantelbahnen, dürre Finger rissen einen Revolver hervor.
    Gillian kam ihm zuvor. Mit einem langen Satz schnellte er auf den Alten zu. Seine Schwertklinge klirrte gegen Morgantus’ Waffe, schlug sie aus der knöchernen Hand. Einen Herzschlag lang sah es aus, als würde der Revolver am Rand der Plattform liegenbleiben, dann aber kippte er über, verschwand im Abgrund. Tief unten schlug die Waffe auf graue Felsen, wurde von der krachenden Brandung ins Meer gespült.
    Gillian packte Morgantus am Kragen, preßte ihn mit aller Gewalt nach hinten, bog den Rücken des Alten über das Geländer. Seine Hand mit dem Schwert fuhr nach oben, um den Schädel des Alchimisten mit einem Schlag von den Schultern zu trennen. Tausend Bilder rasten durch sein Gehirn, Erinnerungen flackerten auf, erloschen wieder. All die Morde, die er im Auftrag Lysanders und seines Meisters begangen hatte, all die Opfer. Er sah sie vor sich, mit großen, flehenden Augen, angsterfüllt, manche in Panik.
    Morgantus aber hatte keine Angst. Seine Augen waren klein und verkniffen – tückische, bösartige Augen. Der Wind zauste weiter im Pelz der Kapuze, schleuderte sie zurück, entblößte ein faltiges, schmales Gesicht.
    Da, bevor Gillian zuschlagen konnte, öffneten sich die Lippen des Alten, ein verdorrter Schlitz unter Zügen wie aus gelbgrauem Leder. Brandung und Wind waren ohrenbetäubend, doch die Worte des Alten schlängelten sich zischend durch das Getöse, bissen sich ihren Weg in Gillians Hirn.
    Ein Satz nur. Schlichte, beinahe spröde Worte. Keine Drohung, keine Warnung, kein Zauberspruch.
    Und doch veränderten sie alles.
    Lysander blieb stumm, aber sein plötzliches Schweigen schuf größere Unruhe als alles, was er bisher gesagt hatte. Er blickte von Aura zu Sylvette, dann wieder hinab in die dunstige Leere.
    »Wo ist Morgantus?« fragte Aura noch einmal, schärfer. »Sie wissen es doch, oder?«
    »Nein«, sagte er. »Aber ich ahne es.«
    »Dann sag es«, verlangte nun auch Sylvette. Sie hielt immer noch Lysanders Hand, aber mit einem Mal war eine sonderbare Stimmung entstanden, die der Berührung einen Großteil ihrer Wärme und Zuneigung entzog.
    »Ich fürchte«, sagte Lysander leise, »er stattet eurem Schloß einen Besuch ab.«
    Sylvette ließ die Hand ihres Vaters los. »Morgantus ist bei Tess?« fragte sie fassungslos. »Aber du hast doch gesagt, sie sei –«
    »In Sicherheit, wenn wir sie in Wien zurücklassen,
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