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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Autoren: Christine Lehmann
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in patriarchale Mythen über Mutter Natur.
    Wie ein anderer schreibender Häftling einst notierte: »Viele Handlungen, die unserem Bewußtsein widernatürlich erscheinen, sind für andere natürlich, weil die Tiere sie vollziehen, und sind nicht die Tiere die ›natürlichsten Wesen der Welt‹? (…) Indes sind auch diese Behauptungen über die Tiere nicht immer zutreffend, weil die Beobachtungen an Tieren gemacht sind, die vom Menschen zu einer Lebensform gezwungen sind, die für sie nicht natürlich ist. (…) Das Wesen {natura} des Menschen ist das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, das ein historisch definiertes Bewußtsein bestimmt, und dieses Bewußtsein zeigt an, was ›natürlich‹ ist oder nicht.« (Gramsci: Gefängnishefte, H. 8, §151).
Mit »Die Affen von Cannstatt« hat Christine Lehmann erneut überrascht: ein nüchterner und doch stürmischer Kriminalroman mit mehrfachem Nachhall im Kopf.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen  sind nicht beabsichtigt und rein zufällig. Christine Lehmann

Haftbuch, 29. Januar

    Den Computer verdanke ich wahrscheinlich der Intervention von Oberstaatsanwalt Dr. Weber. Er scheint mir ein rechtschaffener Mensch zu sein, obwohl ausgerechnet seine Freundin, diese Hyäne, dafür verantwortlich ist, dass ich seit Dezember hier in U-Haft sitze, in der JVA Schwäbisch Gmünd, auch Gotteszell genannt.
Verteidigung Camilla Feh
    Ich bin die Tochter einer Kindsmörderin. Seit meiner Schulzeit höre ich Geflüster hinter mir. Oder bilde es mir ein. Das abartige Verbrechen meiner Mutter ist Teil meiner Identität, obwohl ich mich an sie nicht erinnere. Sie ist aus meinem Leben verschwunden, ehe ich sie bewusst wahrnehmen konnte. Nicht einmal an den Moment ihres Verschwindens erinnere ich mich. Ich weiß, dass ich mit drei zu meiner Pflegefamilie kam. Mit den Jahren reifte die Erkenntnis, dass ich nicht die leibliche Tochter meiner Eltern bin. Man hat es mir nicht eines schönen Tages eröffnet. Ich wusste es immer. Denn da ist eine Person, die ständig neben oder hinter mir steht, wenn Erwachsene sich für mich, die süße Kleine, interessieren und meine Eltern mich als ihr Pflegekind vorstellen. Es ist ein Beiwort, dessen Sinn sich allmählich in mir verzweigt. Begleitet von einem Geraune hinter meinem Rücken, mit dem die Erwachsenen sich über den Grund meiner Existenz verständigen. Ich weiß, dass es der Schulrektor wusste. Mein Pflegevater hat es ihm mitgeteilt, um Auffälligkeiten zu erklären, die ich vielleicht an den Tag legen würde: störrisches Verhalten, Lernschwächen, Empfindlichkeiten, meine übergroße Stillheit.
    Ich kann auch keinen Moment benennen, in dem mir eröffnet worden oder schlagartig bewusst geworden wäre, dass ich die Tochter der Kindsmörderin Josefine Tanner bin, von der man in der Zeitung lesen konnte, dass sie in den achtziger Jahren vier Neugeborene getötet und in der Kleingartenanlage Muckensturm an der Grenze zum Hauptfriedhof Cannstatt vergraben hat. Am 6. Mai 1991 wird dort von einem Friedhofsgärtner ein winziger Schädel ausgehoben. Die Polizei sucht tagelang und findet drei weitere Skelette.
    Als ich vierzehn bin, drehe ich mich zu meinem Schatten um, will wissen, wer meine Mutter ist und was sie getan hat. »Sie hat schlimme Dinge getan, aber wir haben dich trotzdem lieb«, sagt meine Pflegemutter. Sie kann darüber nicht reden. Auch mein Pflegevater gerät in Stress. Er trägt einen Ordner mit Zeitungsartikeln, staatsanwaltschaftlichen Mitteilungen und Polizeiakten herbei. Wir setzen uns damit an den Esstisch. Er schwitzt, als müsse er sich persönlich vor mir rechtfertigen, er setzt sich die Brille auf und wieder ab. Es ist mir unangenehm zu sehen, wie aufgeregt er ist und wie sehr sich der Schuld bewusst – wenn auch nicht seiner. Ich will die Not für ihn und mich verkürzen, frage nur wenig, beeile mich, alles zu erfassen. Ein Pressefoto zeigt Polizisten und in Lappen geschlagene Haufen halb unter Gebüsch. Das sind die Leichen. Auf einem anderen sehe ich ein langgestrecktes Reihenhaus mit Birken, das sich laut Bildunterschrift in der Zuckerbergstraße befindet. Ein weiteres Foto zeigt ein verschrecktes kleines Kind. Das soll ich sein.
    Vermutlich wäre die Polizei der Kindsmörderin nie auf die Spur gekommen, erzählt mein Pflegevater, hätten nicht besorgte Nachbarn einige Tage nach dem Zeitungsbericht über den schrecklichen Fund die Behörden alarmiert, weil in einer der Wohnungen in der
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