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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Autoren: Christine Lehmann
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Stuttgart,
    ledig,
    Staatsangehörigkeit: deutsch,
    wohnhaft Hagelschieß 36, Stuttgart Bad Cannstatt,

    Wahlverteidiger: RA Gerald Feh, Silberburgstraße 189, Stuttgart,

    wird angeklagt,

    am 08.12.2012 in Stuttgart Bad Cannstatt, Wilhelma,

    den Tod von Herrn Till Deutschbein, geboren am 10. September 1985,
    wohnhaft Wartbergstraße 134, Stuttgart, absichtlich und willentlich herbeigeführt zu haben.

    Der Angeschuldigten wird Folgendes zur Last gelegt: ...
    Es folgen die Einzelheiten. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft habe ich Till nach einer Nikolausfeier des Nachts auf illegalen Wegen – nämlich durch Übersteigen eines Tors – verleitet oder ihm dazu verholfen, in die Wilhelma einzusteigen. Gemeinsam sind wir anschließend über ein Fenster ins Menschenaffenhaus eingedrungen. In der Folge habe ich Till mit Hilfe eines illegal beschafften Schlüssels Zugang zu den Gehegen der Bonobo-Affen verschafft, ihn mit einem Pfefferspray handlungsunfähig gemacht, zugesperrt und ihn seinem Schicksal überlassen.
    Der Text ist lang, die Liste der Zeugen und Beweismittel ebenfalls.
    Jetzt muss das Gericht entscheiden, ob es die Anklage zur Hauptverhandlung zulässt, erklärt mir Onkel Gerald.
Fortsetzung Verteidigung Camilla Feh
    Es ist nicht möglich, die Wilhelma nicht betreten zu haben, wenn man in Cannstatt aufgewachsen ist. Bis ins Erwachsenenalter hat mich Ungeduld erfasst, wenn ich an der Ziegelfriesmauer mit ihren Rosetten und Akanthusblattornamenten entlang zum Eingangspavillon der Wilhelma ging. Als ich Kind war und die Oma mit Lukas und mir in den Zoo ging, erschien mir der Weg endlos. Für die bröselnde Pracht hinter der Mauer mit Badhaus, Gewächshäusern, maurischem Landhaus und Theater habe ich nie Augen gehabt. Ich will Tiere sehen, nicht den König. Aber ohne König Wilhelm keine Wilhelma. Er ließ sich unterm Rosensteinschloss ein privates Kurbad mit Teichen und Wandelgängen bauen. Der Schrei der Pfauen schwebt bis heute über der Anlage.
    Während die Oma am Pavillon Karten kauft, spicke ich durch die Schranke und sehe die Flamingos. Doch vor die Tiere haben Wilhelma und Oma das Gewächshaus gesetzt. Dicke stachelige Kakteen, Blüten und Blumen ohne Zahl, in denen Oma schwelgt. Auf halber Strecke gibt es in Guckkästen atmende Fellhaufen: der Große Tanrek, Langschwanzchinchilla, Flachlandviscacha und Mattheys Knirpsmaus. Dann kommen die Kamelien. Der Zoo lässt sich bitten. Am Ende des Gewächshauses geht es an den Seerosenteichen entlang ins Aquarium. Fische sind bewegte Blumen. Lukas liebt den Zitteraal. Er verteilt Stromschläge, die über dem Aquarium angezeigt werden. Dann will er die Krokodile sehen. Wir schauen in die betonierten Wasserbecken hinab. Immer ist ein weißes darunter, das nicht wirklich weiß ist. In meiner Kindheit ist der Wilhelmabesuch ein Tauschhandel mit der Oma. Magnolienblüte für sie, Kea, Jägerlies und Kaka für mich, die Löwen für Lukas. Sie bekommt ihr maurisches Landhaus mit den Bromelien, Lukas die Seelöwenfütterung um elf oder fünfzehn Uhr. Die Affen findet die Oma unanständig. Sie lockt uns mit einem Eis weg und belohnt sich mit Kaffee und Kuchen.
    Im August 2008 bin ich dann fast jeden Tag in der Wilhelma. Mit einer Sondergenehmigung gehe ich ums Parkhaus herum, am Verwaltungsgebäude vorbei und über den Betriebshof durchs Tor am Ende des Gewächshauses hinein, eile den Wandelgang an den Seerosenteichen und Magnolienbäumen entlang, passiere das Becken der Seelöwen und wende mich nach links zum Menschenaffenhaus.
    Insgesamt dreihundert Stunden beobachte ich die Bonobos und protokolliere minutiös ihre Aktionen. »Die Friedensstrukturen des Matriarchats bei den Bonobos«, so lautet der Titel meiner Arbeit im vierten Semester meines Soziologiestudiums für Professor Dr. Norbert Schmaleisen.
    Es gibt den Beobachter erster und zweiter Ordnung. Über den Beobachter, der auf die Realität schaut, gibt es nur dann etwas zu sagen, wenn man den Beobachter zweiter Ordnung einsetzt, der beobachtet, wie der Beobachter seinen Gegenstand der Beobachtung wahrnimmt. Er kann die blinden Flecken erkennen, die der Beobachter erster Ordnung aufweist. Im Grunde ist alles Lesen von Texten oder Betrachten von Bildern ein Beobachten zweiter Ordnung. Wir leben in einer Zeit, in der Beobachter erster Ordnung fast vollständig von Beobachtern zweiter Ordnung abgelöst worden sind. Wir beziehen so gut wie alle unsere Kenntnisse aus dem Internet, aus dem Fernsehen, aus
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