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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Autoren: Christine Lehmann
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versorgen kann. In Indien, weil die Mitgift für Mädchen viel Geld kostet. Doch die Gesellschaft entgleist. Denn junge Männer ohne Aussicht auf Heirat und Familie schließen sich zu gewalttätigen Banden zusammen und vergewaltigen und entführen fremde Frauen. In Deutschland gibt es keinen materiellen oder sozialen Grund, Neugeborene zu töten. Es geschieht auch selten aus materieller Not, lese ich. Ungefähr dreißig Neugeborene werden dennoch jedes Jahr umgebracht, meist von ihren Müttern.
    In der Antike bestimmte der Vater, ob er ein Kind annehmen oder töten lassen wollte. Das Christentum führte Strafen für Abtreibung, Kindstötung und Aussetzung von Kindern ein. Im Mittelalter mussten ledige Frauen ihre Schwangerschaft den Stadtoberen melden, sonst standen sie im Verdacht, ihr Kind töten zu wollen. Auch heute hält es eine Frau davon ab, ihr Kind zu töten, wenn andere wissen, dass sie schwanger ist. Bis Ende des 18. Jahrhunderts wurden Kindsmörderinnen mit dem Tod bestraft. Erst im Sturm und Drang änderte sich die Einstellung. Man erkannte, dass Frauen wie Goethes Gretchen im Faust Opfer von Verführung und Gewalt werden konnten und aus Not handelten. Es wurden Häuser eingerichtet, in denen Frauen anonym entbinden konnten. Im 19. Jahrhundert entstand dann die Ideologie der Mutterliebe, und bis heute werden Frauen als Verbrecherinnen verfemt, die ihre Kinder nicht wollen.
Ich habe Till nichts von meiner Mutter erzählt, die hinter mir steht mit ihrer Feigheit und Dummheit. Es ist ein früher, warmer Sommer. Wir liegen auf den Neckarwiesen, wir lieben uns auf dem Teppich vor dem Sofa, in der Küche, nachts im Bett. Ich fühle mich unbeschwert.
    Er studiert Germanistik und im Nebenfach Politik und Soziologie. Er ist Punk und Veganer. Ich habe ihn in der Mensa zum ersten Mal gesehen. Ein zierlicher Mann im knöchellangen Schottenrock verteilt Broschüren mit dem, was er der Gesellschaft vorzuwerfen hat. Spöttische Blicke folgen ihm. Die Broschüren bleiben auf den Tabletts und Tischen liegen. Ich lese aus Langeweile, was mich nicht interessiert, aber plötzlich weckt.
    »Beinahe jeder Krimi gibt heute vor, einen Antihelden zu haben, und täuscht so darüber hinweg, dass die inhärente Behauptung, die aus der Bahn geworfene Welt wieder ins Gleis heben zu können, reaktionär und schamlos ist. Der Krimi tut so, als bedürfe es nur einer engagierten Person, um die Welt vom Verbrechen zu reinigen und den Schuldigen anzuklagen. Der wahre Krimi müsste die großen historischen Versprechen und ihr Scheitern zeigen. Wo der Ermittler aber von einem Verbrechen zum nächsten eilt, wird nur herausgestellt, dass alles weitergeht und Abweichungen nicht geduldet werden.«
    Vor der Tür der Mensa treffe ich ihn rauchend, schaue ihm ins Gesicht, das er mit Piercings vielfach verletzt hat. Seine Haare sind blond unter der roten Farbe, seine Augen leuchtend blau. Sein Lächeln ist höflich. Es fällt mir leicht, ihn anzusprechen. »Ich lese keine Krimis. Ich schau mir auch kaum noch welche im Fernsehen an. Sie erzeugen eine perverse Spannung. Man fiebert mit, obgleich alles unecht und unwahr ist. Dann hat man nur Zeit totgeschlagen.«
    Wir reden zwei Stunden im Stehen, nicken, lachen, stimmen uns gegenseitig zu, weben ein Geflecht von Gemeinsamkeiten, die uns verbinden und gegen die in Irrtümern verhaftete Gesellschaft, die unsere ist, abgrenzen, und verabreden uns. Von Till lerne ich, dass ich begehrenswert bin, eine schöne Frau mit langen blonden Haaren und guter Figur. Mit seinen die Lust erforschenden Händen bildet er in meinem Kopf meinen Körper ab, legt Hüften, Hintern und volle Brüste in mir an, gibt mir einen Schwanenhals, süße Lippen.
    Ich werde ihm niemals von meiner Mutter erzählen. Keiner eignet sich besser, die Geheimnisse, mit denen wir durchs Leben gehen wollen, zu etablieren, als der Geliebte. Die Liebe ist Gegenwart und schaut in die Zukunft. Till sieht nur meinen Körper. Täglich lieben wir uns und schwingen unsere Gefühle und Gedanken auf Gemeinsamkeiten ein. Wir besprechen die sozialen Rollen, die wir spielen wollen. Die Liebe ist ein Glück, das aus der Zukunft zu uns kommt. Eines Tages werden wir Kinder haben. Eines Tages werden wir alt sein und sterben.

Haftbuch, Donnerstag, 14. Februar  
    Ich habe von der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Stuttgart die Anklageschrift bekommen. Sie ist an die Große Strafkammer adressiert.
Frau Camilla Feh,
    geboren am 15. Oktober 1987 in
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