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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Autoren: Christine Lehmann
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Haftbuch, 15. Februar
    Eine in meiner Abteilung schreit in die Nacht hinaus. Immer wieder. Mal um Mal ein Brüllen aus tiefstem Schmerz. Kindisch ungehemmt. Es zerrt an den Nerven. Niemand will sich darum kümmern. In den Nächten kann ich am wenigsten ignorieren, wo ich bin. Es ist nie still. Eine Disko wummert draußen. Hierinnen kracht irgendwo eine schwere Tür. Irgendjemand ruft. Manchmal eilen Schritte, ich höre das Klack-Klack des Schlüssels.
Fortsetzung Verteidigung Camilla Feh
    Bonobos leben im Matriarchat. Sie sind die einzigen Menschenaffen, die das tun. In Freiheit umfasst ihr Clan über hundert Tiere. Sie bilden Kleingruppen, in denen die ältesten Weibchen das größte Ansehen genießen. Die männlichen Tiere sind im Rang den Frauen nachgeordnet. Sie bleiben ihr Leben lang bei der Gruppe ihrer Mutter. Die jungen Frauen dagegen verlassen die Gruppe, wenn sie geschlechtsreif geworden sind, und gliedern sich in eine neue Frauengruppe ein. Es hat sich gezeigt, dass das Matriarchat für das Überleben der Art nützlich ist. Bonobos bringen in freier Wildbahn mehr Babys durch als Schimpansen oder Gorillas. Denn bei den Bonobos sind nicht die starken Männer, sondern die Mütter die Ersten am Futter. Sie können ihre Babys besser ernähren als Mütter in patriarchalen Gesellschaften.
    »Wären Bonobos nicht erst vor achtzig Jahren entdeckt worden«, schwärmt Till, »hätten Soziologen und Evolutionsbiologen die Entwicklung der Menschheit vielleicht anders beurteilt. Nicht als Erfolgsgeschichte der Werkzeug- und Kriegsintelligenz, sondern als Entartung, die letztlich selbstzerstörerisch ist, weil sie den Nachwuchs zwar erzeugt, aber nach der Geburt vernachlässigt.«
    Er macht mein Projekt zu einem Erkenntnisvehikel in unserem Kampf um eine gerechtere Welt. Neun Millionen Kinder sterben jährlich vor ihrem fünften Lebensjahr. Zugleich basiert das Überleben der Menschheit auf genau dieser hohen Kindersterblichkeit, erklärt er uns in anarchoveganen Arbeitskreisen, denn andernfalls würde die Weltbevölkerung noch schneller wachsen und wir würden einander noch wütender zerfleischen als jetzt schon. Wenn man den Frauen in der sogenannten Dritten Welt die Kontrolle über Geburten und Nahrungsmittel überlassen würde, erklärt er, würden zwar weniger Kinder geboren, aber sie hätten eine reelle Chance, groß zu werden.
    »Wenn aber das friedliche Matriarchat ein taugliches Konzept wäre, dann wären die Bonobos heute nicht vom Aussterben bedroht«, wende ich ein, als wir wieder allein sind.
    »Aber das sind die Gorillas, Orang-Utans und Schimpansen doch auch«, erwidert er. »Und wir sind Menschen, wir können reflektieren und uns entweder für Brutalität oder Frieden entscheiden. Dennoch leben wir immer noch auf dem Niveau einer Pavianhorde.«
    »Wahrscheinlich wollen wir es so«, sage ich. »Der Mann wird niemals seine Macht abgeben. Nirgendwo auf der Welt gibt es noch Matriarchate. Sie sind überall vor langer Zeit von primitiven kriegerischen Horden unterworfen worden. Nur wer sich wehren kann, wird nicht beherrscht. Und Frauen sind den Männern körperlich unterlegen.«
    Stellt sich die Frage, warum bei den Bonobos zwar die Männer körperlich schwerer und stärker sind, aber trotzdem nicht herrschen. Schaut man sich die Schimpansen an, so sieht man, dass zur Körperkraft noch die Fähigkeit kommen muss, Freundschaften zu schließen und gemeinsam anzugreifen. Bei den Schimpansen können die Männer das, aber die Frauen nicht. Sie sind darum die Vergewaltigten und Gebissenen.
    Eindeutig hat bei den Hominiden das soziale Konzept überlebt, das auf der Fähigkeit der Männer basiert, im Kampf um die Macht Allianzen zu schmieden, und auf der Unfähigkeit der Frauen, dies ebenfalls zu tun.

Haftbuch, 16. Februar
    Ich zittere noch. Gerade eben beim Hofgang sind zwei Frauen mit Fäusten und Krallen aufeinander losgegangen. Wie im schlechten Film. Aber wenn es in Wirklichkeit passiert, kann man nicht amüsiert zugucken. Der Stress springt über. Die Geräusche der Gewalt stellen den Organismus auf Kampf. Ein unerträglicher und törichter Zwang einzugreifen entsteht. Als ob ich verantwortlich wäre, es zu beenden. Weil ich vernünftig bin, aus einer Welt mit Deeskalationsstrategien, Mediationen und Konfliktbewältigungstechniken komme. Alles Käse. Ich bin vor Schreck gelähmt. Ich habe mich nie geprügelt, ich kenne die Regeln nicht. Womöglich werfen sie sich beide auf mich. Warum tun die
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