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Die Abrichtung (German Edition)

Die Abrichtung (German Edition)

Titel: Die Abrichtung (German Edition)
Autoren: Jens van Nimwegen
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liegt jetzt frei.
    Kalle öffnet die Tür: «Hallo! Was haben wir denn da?» – «Mein neues Schwein.» – «Oh, wie schön für dich! Wie heißt es?» – «Schweine brauchen keine Namen.» Kalle ist einen Augenblick verwirrt, dann streckt er dem Schwein seine Hand hin: «Hallo, Schwein!» Im Reflex will das Schwein seine Hand aus der Tasche ziehen, um den Gruß zu erwidern, aber das geht ja nicht. Das Schwein ist nun genauso verwirrt wie Kalle, dann gibt es sich einen Ruck, fällt auf die Knie und küsst Kalles Hand. Kalle wird rot und stottert: «Äh – nun kommt erst mal rein!»
    Im Flur kommt uns Kalles Mutter entgegen, wie immer mit einem Tablett in den Händen. Sie kann es nicht lassen, sich um alles zu kümmern. «Karlchen, findest du nicht auch, dass wir jetzt die Fischhäppchen … Oh, guten Abend, Jens! Und Sie, junger Mann? Sie kenne ich noch nicht. Wie heißen Sie?» – Kalle fasst sich sichtlich ein Herz und sagt: «Das ist Jens’ Schwein, Mama.» – «Aha. Nun, guten Abend, Herr Schwein. Ich hoffe, dass es Ihnen hier gefällt. Und dass es Ihnen nicht zu kalt ist in dem dünnen Hemd.» Mit diesen Worten verschwindet sie in der Küche. Ich höre sie noch murmeln: «Hand geben kann er auch nicht …»
    Beim Eintritt in den Salon drehen sich alle Köpfe zu uns um. Außer John und Jim hat noch niemand das Schwein gesehen, aber seine Ankunft hat sich wohl schon herumgesprochen. Ich höre unterdrückte Ausrufe wie «Donnerwetter!» oder «Geil!».
    Frank stiefelt auf uns zu. Sein geübter Blick durchschaut die Konstruktion mit den Handschellen sofort, darum kneift er dem Schwein zur Begrüßung in die Brustwarze, anscheinend ziemlich fest, mit den Fingernägeln: «Guten Tag.» – Das Schwein zieht zischend die Luft ein und unterdrückt mühsam einen Aufschrei.
    Den Rest des Abends kümmere ich mich nicht weiter um mein Schwein. So wie ich Frank kenne, wird er es ab und zu füttern. Und er wird daran sicherlich andere Gäste teilhaben lassen. Und wenn nicht – dann wird das Schwein sich irgendwie behelfen müssen.
    Franks Großvater ist siebenundneunzig Jahre alt und sieht so aus, als ob er nicht mehr für sich sorgen könnte. Seine Haare und vor allem seine Fingernägel hätten schon längst geschnitten werden müssen. Sein Anzug ist fleckig. Die ganze Erscheinung flößt Ekel und Mitleid ein, und nicht nur ich frage mich, was er hier zu suchen hat. Bis er zu sprechen beginnt. Er erzählt Erlebnisse aus seiner Jugend in den zwanziger Jahren. Spannend, gute Dramatik, mit viel Liebe zum Detail und viel Humor. Mit Augenzwinkern erwähnt er «datt et auch damals junge Männer jab die mit Mädschen nidde so viel anfangen konnten.» Dann setzt er sich ans Klavier und spielt Tanzmusik von damals. Er hat den Rhythmus in den Fingern. Wenn er nicht so furchtbar vernachlässigt aussähe, würde ihn jeder für einen geistig jung gebliebenen Siebzigjährigen halten.
    «Ja», sagt Frank, «das ist ein bekanntes Problem, dass ich bei meinen Klienten auch immer wieder sehe. Irgendwann zwischen sechzig und achtzig hören Männer auf, auf ihr Äußeres zu achten. Sie wirken verkommen, selbst wenn sie geistig noch rege sind. Aber was sollen wir machen? Der Opa lebt alleine, fährt noch Auto, was sein Arzt ihm auch ausdrücklich erlaubt, leitet seine kleine Firma und ist im Alter nicht weniger dickköpfig geworden als er schon immer war. Den können wir doch nicht ins Heim stecken, nur weil er seine Anzüge nicht mehr reinigen lässt. Ob wir auch mal so werden? Ich fürchte, es ist unvermeidlich.»
    Auf dem Heimweg ist mein Schwein still. Der alte Mann hat Eindruck gemacht, aber auch körperlich abstoßend gewirkt. Dem Schwein gehen bestimmt allerlei Gedanken durch den Kopf. Aber während seiner Lehrzeit soll es sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Über die Zeit danach wird nicht geredet.

Pissoir  
    Wir wollen an die frische Luft. Ich lasse das Schwein erst einen Liter Bier trinken: gegen den größten Hunger – und weil ich so meine Pläne habe. Dann muss es Jeans und Stiefel anziehen, bevor ich ihm die Unterarme im Rücken verschränkt aneinanderfessele. Über seine Schultern hänge ich lose die Lederjacke. Jeder soll die schöne Brust sehen; die Fesseln aber gehen niemand etwas an …
    Wir promenieren durch den Stadtpark. Wenn ich mich auf einer Bank ausruhe, muss sich das Schwein vor mich auf den Boden setzen. Es darf sich dabei mit den Ellenbogen aufstützen. Ich achte darauf, dass die Beine immer
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