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Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus

Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus

Titel: Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
Autoren: Ingo Hasselbach , Winfried Bonengel
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schrie mir nach: »Haltet den Dieb!« Eine halbe Stunde später traf ich Freddy auf dem Spielplatz unseres Neubauviertels wieder. Ich fragte ihn, warum er »Haltet den Dieb« gerufen hatte. Freddy holte ein paar Flaschen Schnaps aus seiner Tasche hervor: »Das war doch nur ein Ablenkungsmanöver!« Dann betranken wir uns zusammen mit den Hippies.
    Tabus kannte Freddy damals schon längst keine mehr. Er amüsierte sich, wo er nur konnte.
    Irgendwann hatten wir damit begonnen, zu schnüffeln. Wir verwendeten meist Fleckenentferner oder Benzin. An manchen Abenden war ich so dicht, daß ich nicht mal mehr wußte, wie ich heiße. Wenn ich dann nachts nach Hause kam, ging ich immer sofort ins Bett. Mein Stiefvater und meine Mutter bemerkten nie etwas. Beide waren durch ihre Arbeit sehr ausgelastet, was Du Dir ja denken kannst. Es war ja bei Dir nicht anders. »Alle Kraft für den Sozialismus«, da blieb für die Familie kaum mehr Zeit übrig.
    In dieser »Schnüffelzeit« lernte ich Gabi kennen. Sie war meine erste richtige Freundin.
    Nach und nach spalteten sich die Punks von den Hippies ab. Freddys Irokesenfrisur provozierte die braven Bürger in der Öffentlichkeit. Und provozieren wollten wir. Je mehr ich mich mit Freddy herumtrieb, um so mehr verlor ich die Hippies aus den Augen. Ich habe dann nie wieder etwas von ihnen gehört. Nur einmal, vor zwei Jahren, sah ich einen im Gefängnis in der Keibelstraße. Ich befand mich gerade in Untersuchungshaft. Der Althippie begrüßte mich freundlich, obwohl ich zu dieser Zeit bereits ein stadtbekannter Neonazi war: »Das habe ich immer gewußt, daß ich dich hier wiedertreffen werde!« Er lachte selbstzufrieden.
    »Warum?«
    »Weil du hierher gehörst, ganz einfach.«
    Die Hippies waren mir im Laufe der Zeit einfach zu brav geworden. Da ging es bei den Punks schon ganz anders zur Sache. Die Punks fielen durch ihr aggressives Verhalten in der Öffentlichkeit auf. Die Leute in unserem Wohngebiet waren mit den Nerven fertig, als sie den ersten Punk mit Irokesenfrisur gesehen hatten. Am Anfang genügte es mir, mit grünen Hosen und hochgekämmten Haaren herumzulaufen. Nach und nach steigerte ich mich dann. Auf meiner Jacke standen provokative Sprüche wie: »Mach kaputt, was dich kaputtmacht«, »Keine Macht für niemand« und »Du bist frei, wenn keiner dich beobachtet«.
    Ich hatte große Freude daran, in die geschockten Gesichter der Leute aus unserem Wohngebiet zu sehen, die ich alle für Stasispitzel hielt. Ich fühlte mich stark, und es gefiel mir, zu einer Gruppe von jungen Leuten zu gehören, die sich von niemandem mehr etwas sagen ließen und die durch nichts zu beeindrucken waren. Endlich hatte ich durch mein Auftreten eine eigene Identität gewonnen. Wir nahmen keinen mehr ernst und machten uns über jeden lustig. Wir waren jetzt keine Kinder mehr.
    Freddy übertraf jeden anderen, wenn er alles ins Lächerliche zog. Ich trank von Tag zu Tag mehr, Freddy und ich stahlen täglich bis zu fünfzehn Flaschen Schnaps aus immer anderen Kaufhallen der Stadt. Wenn wir mal nichts zu trinken hatten, gingen wir zum Spielplatz, um dort zu schnüffeln. Manchmal ließen wir aus der Kaufhalle auch Spaghetti mit Tomatensoße mitgehen, schütteten den Büchseninhalt einfach auf einen Betontisch und aßen alle zusammen davon. Als Besteck benutzten wir unsere Hände. Die Gesichter der ihre Kinderwagen vorbeischiebenden Mütter werde ich nicht vergessen. Sie zerrten ihre kleinen Kinder hysterisch vom Spielplatz.
    Die Musik von den »Sex Pistols«, von »UK Subs«, »Plast-matics«, »Fehlfarben« und »Hansa plast« putschte uns manchmal derartig hoch, daß wir, angetrunken, wie wir waren, zum Alexanderplatz zogen. Dort pöbelten wir Touristen und Polizisten an.
    Manchmal beschränkten wir uns aber nicht allein darauf. Natürlich konnten wir, wie alle DDR-Bürger, die Westdeutschen ganz leicht an ihrem Verhalten und ihrer Kleidung erkennen. Freddy und ich machten uns einen Spaß daraus, gelegentlich einen der gut angezogenen älteren Herren auf die öffentliche Toilette zu begleiten. Meist in dem Moment, wenn der Mann am intensivsten beschäftigt war, rempelten wir ihn von hinten an, daß der Erschrockene gegen die schmutzige Wand fiel. Dabei verlor er manchmal seine Brieftasche. Die Volkspolizei schien sich für derartige Übergriffe nicht besonders zu interessieren. Einmal sahen wir eines unserer Opfer sich gerade bei einem Polizisten beschweren, der zuckte jedoch mit den Schultern. Wir
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