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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Köhlmeier
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der Wachen beeinflusst habe und diese ihn für Lawrenti Berija hielten.
    Die Herren von Partei und Armee lachten. Noch draußen in der Toilette hörte ich sie lachen.
    Dann fragten sie mich weiter aus. Sie fragten Dinge wie: ob der Sozialismus bald untergehe; wann er untergehe; wie er untergehe; was danach komme; wie man sich darauf vorbereiten solle; ob man sich darauf überhaupt vorbereiten könne; ob er doch nicht untergehe; ob doch noch alles gut werde. Ich antwortete nach Belieben mit »Ja«, »Nein« und »Weiß nicht«.
    Am Ende erhob sich Markus Mischa Wolf, er hatte sich bisher nicht zu Wort gemeldet. Er vollführte mit den Händen eine Bewegung, als wolle er uns beruhigen. Dabei war es ruhig in Kurt Hagers Wohnzimmer.
    »Ich darf du zu dir sagen?«, begann er.
    »Ja«, antwortete ich.
    »Und es stört dich wirklich nicht?«
    »Nein.«
    »Und du möchtest zu mir ebenfalls du sagen?«
    »Weiß nicht.«
    Dieser große, schlanke, gutaussehende, alte, graue, etwas zitternde, von Rückenschmerzen gebeugte, charmante, immer gelassen lächelnde Mann: »Wir haben große Hoffnungen in dich gesetzt. Und tun es noch immer. Inzwischen sogar noch größere Hoffnungen. Ein Thälmann ist zu uns gekommen. Sollte ich sagen: ist zu uns herabgestiegen? Gut, ich sage: herabgestiegen. Und? Schau dich um! Grinst hier einer wegen dieses Ausdrucks? Grinst der Genosse Hager, der Genosse Mittag, der Genosse Sindermann, grinsen die Herren der Partei und der Armee? Nicht einer. Wir sind wahrlich ein abgebrühter Haufen. Wir wissen alles. Und glauben nichts. Jeder hier weiß über die Huren und Strichbuben des anderen Bescheid, über die unterirdischen Geldflüsse, über jedes hier anwesende Leben, über die Privilegien, die Konten auf Schweizer Banken, Arztbesuche, Operationen, Süchte, das Gutsein, das Bösesein. Wir wissen. Aber wir glauben nicht. Nur, ob wir alten Männer glauben oder nicht glauben, spielt keine Rolle mehr. So lautet der Befund. Und da sind wir am Punkt, mein lieber junger Freund. Alt und müde geworden sind wir über der Arbeit am besseren Menschen. Aber an den besseren Menschen muss man glauben. Das haben wir zu spät begriffen. Die Arbeit am besseren Menschen besteht wenigstens zur Hälfte darin, an ihn zu glauben. Das haben wir zu spät begriffen. Wenn man nicht an ihn glaubt, wird er nicht. Ein bisschen materialistische Religion hätten wir nötig, nur ein kleines bisschen! Ist das zu viel verlangt? Hier einen materialistischen Heiligen, da einen, mehr doch nicht. Ist das wirklich zu viel verlangt? Einen Thälmann, den man nicht nur begreift, sondern an den man auch glauben kann, auch wenn man ihn nicht immer versteht. Sonst laufen wir Gefahr, dass uns alle Dinge als ihre eigene Parodie erscheinen und wir nur mehr höhnisch grinsen, weil wir uns im Besitz des letzten Geheimnisses wähnen, nämlich dass nichts einen Sinn hat. Das wollen wir doch nicht! Das wollten wir nie! Zum Gegenteil dessen sind wir angetreten. Und dann kamst du. Wir waren verwirrt, und wir sind es immer noch. Eben weil wir dich nicht verstehen. Nimm es als Beweis unseres höchsten Vertrauens, dass ich auf diese Weise mir dir spreche. Der Weltgeist ist auf unserer Seite, daran besteht kein Zweifel. Aber wir sehen ihn nicht. Und warum nicht? Weil wir nur geradeaus schauen. Du setzt dich vor zweitausend Leute hin, sagst kein Wort, und die zweitausend glauben an dich, und es ist, als wären sie besessen von dir. Es hätte nur gefehlt, dass du deine Wunden zeigst. Aber du hast ja keine Wunden. Genährt und gepflegt, mit zwei Familien und dem Gehalt eines Universitätsprofessors ausgestattet, lebst du in unserer Republik wie Gott in Frankreich. Der Sozialismus tritt in eine neue Phase. Und es ist deutscher Boden, auf dem dies zuerst begriffen werden wird. Davon sind wir, die wir uns hier versammelt haben, überzeugt. Noch haben wir es nicht ganz begriffen. Noch nicht ganz, verstehst du? Hilf uns dabei! Hilf uns! Hilf uns! Hast du uns etwas mitzuteilen, kleiner Thälmann? Eine Botschaft. Etwas nur für uns. Etwas, das wir mit niemandem teilen müssen. Möglich, dass wir die Botschaft nicht gleich verstehen. Einerlei. Möglich, dass du sie auch nicht verstehst. Umso besser. Das wäre doch bei Botschaften dieser Art umso besser, oder? Bitte! Denk nach!«
    Ich dachte nach. Sehr lange dachte ich nach. Es war wie im Hörsaal. Erst wurde es ruhig, blieb lange ruhig, wurde unruhig und wieder ruhig, unruhig und wieder ruhig und endlich still wie unter der
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