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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Köhlmeier
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Frankfurt an der Oder setzte sich Frau Dr. Jirtler zu mir in mein Abteil. Sie brachte in einer Kanne Tee und in einer Dose Kekse mit. Die Kekse waren mürb und mit roter Marmelade gefüllt und an einer Hälfte in Schokolade getunkt und mit buntem Hagelzucker bestreut. Wir sprachen miteinander, über dies und das sprachen wir, in unserer Krankenstation hatten wir kaum miteinander geredet, über Schach zum Beispiel sprachen wir, probierten sogar eine Partie ohne Figuren und Brett, brachen sie aber bald ab, lachten auch schon wieder. Ich hatte sie im Verdacht, unser Abenteuer bereits vergessen zu haben. Na, dachte ich, das kann ich doch auch, das kann ich doch auch. Ich kann es wahrscheinlich besser als sie. Also vergaß auch ich unser Abenteuer. Nein, ich muss genau sein: Ich konnte jederzeit so tun, als hätte ich es vergessen. Das ist etwas anderes, läuft aber auf das Gleiche hinaus. Ist nicht Lüge, aber mit der Lüge verwandt.
    Ich ließ mir wieder die Haare und den Bart wachsen.
     

10
     
    Weihnachten verbrachte ich mit meinen Frauen und meinen Töchtern – den Abend des 24. Dezember zu Hause in der Marienburgerstraße bei Clara und Dortchen, dafür den vollen ersten Feiertag, vom Frühstück bis zur Nacht, zusammen mit Elsbeth und Lenchen.
    Elsbeth hatte ein phänomenales Talent für Gemütlichkeit. Wenn in anderen Haushalten Kaffee aufgegossen wird, riecht es nach Kaffee, und das ist schon alles, was sich dazu bemerken lässt. Bei Elsbeth wehten mit dem Kaffeeduft Erinnerungen in die Küche, über die niemand sagen konnte, woher sie kamen, als wären es allgemeine Erinnerungen, an denen jeder Mensch Anteil hat. Als Theologe – Anti-Theologe – sage ich: In Elsbeths Küche war es leicht, sich an das Paradies zu erinnern. Lenchen und ich rollten Murmeln. Wir lagen bäuchlings auf dem Linoleum des Küchenbodens und sahen uns durch die Beine ihrer Mutter, meiner Liebsten, die immer wieder unseren Blick querten, in die Augen. Das Spiel bestand darin, uns gegenseitig gleichzeitig je eine Murmel zuzurollen und darauf zu achten, dass sie unterwegs nicht gegeneinanderstießen. Manchmal lenkte sie ein Brotkrümel ab, manchmal blieb eine an Elsbeths Absatz hängen und wurde weit ins Feld katapultiert, und wir hörten über uns im Himmel der Küche eine Entschuldigung, so friedlich, dass ich mir nichts anderes wünschen konnte, als immer hierzubleiben, für immer von der Universität beurlaubt zu sein, Hausmann zu sein; mich mit Lenchen in eine Ecke zu verkriechen, wenn Mutti bei der Arbeit im Büro des Staatsratsvorsitzenden war, das Weiche aus dem Laib Vollkornbrot zu pulen und kleine Pyramiden daraus zu quetschen, sie vor uns aufzureihen und abwechselnd zu verspeisen. Die Murmeln hatte mir Lenchen zu Weihnachten geschenkt. Ich dachte, nie schönere Gegenstände gesehen zu haben. Bunte, sich in der Mitte aufblähende Spiralen durchzogen die einen, die anderen waren opak, und erst wenn man sie gegen das Licht hielt, gaben sie ihre Tintenbläue oder ihr Purpur preis, wieder andere waren golden und umbrabraun gesprenkelt wie Tigeraugen. Nie verließ ich das Haus, ohne mindestens eine Murmel in der Hosentasche zu tragen. Ich sagte, nichts Schöneres sei auf der Welt, als eine Murmel in der Hand zu drehen. Ich borgte Lenchen zwei, und so schlenderten wir am Morgen zum Bäcker, beide in Hosen, beide den Unterkörper etwas vorgeschoben, beide die Hände in den Hosentaschen, und drehten unsere Murmeln und trugen auf dem Rückweg unser geliebtes Vollkornbrot im Einkaufsnetz.
     
    Zwischen Neujahr und Dreikönig – strahlender Sonnenschein, Temperatur knapp unter null – lud mich Kurt Hager ein. Inoffiziell, wie er sagte. Was bedeutete: nicht mit der Parteispitze abgesprochen. Eine private Einladung sei es aber auch wieder nicht. Er hielt mich nicht für seinen Freund. Männer mit außergewöhnlichen Fähigkeiten hätten ihn schon immer interessiert, sagte er. Professoren, die über Gott reden und dabei nachweislich nicht ein Wort sagen, aber zweitausend Studenten mehr begeistern können als andere, die hundert Bücher schreiben und reden wie Danton – solche Professoren interessieren ihn. Und eben nicht nur ihn. Dass es Gott nicht gebe, sei erwiesen, aber dass der Mensch über Fähigkeiten verfüge, die weit übers Brotbacken hinausreichten, das sei auch bewiesen. Er sprach in Andeutungen. Er hatte das Wohnzimmer in seinem Bungalow in Wandlitz leer räumen lassen. Statt der privaten Möbel waren hier ein Tischchen mit
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