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Nacht der Versuchung

Nacht der Versuchung

Titel: Nacht der Versuchung
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Dies hier ist eine weiße, noch unbeschriebene Seite. Die erste Seite eines Tagebuches.
    Immer habe ich gesagt, Tagebücher seien romantische Spielereien, Überbleibsel einer Zeit, in der die Mädchen mit Schleifchen im Zopf und zu Boden gesenktem Blick neben der Gouvernante durch einsame Parks gingen und »Jawohl, Papa« und »Jawohl, Mama« sagten. Ein modernes Mädchen, so habe ich gedacht, habe andere Interessen, als mehr oder minder wichtige Gefühle, Gedanken und Ereignisse mit viel Herz und noch mehr Schmalz niederzuschreiben … aber nun, heute, an diesem Tage, fange ich selbst ein Tagebuch an … so, wie ab heute auch ein neuer Abschnitt meines Lebens beginnt.
    Ich habe das Abitur bestanden! (Schwer genug war's!) Ich durfte mit meinen Freundinnen Babette und Ursula an die Ostsee fahren, ganz allein, ohne Mamas Begleitung, als Belohnung für das ›Zeugnis der Reife‹, wie es so wichtig heißt. Ich bin plötzlich ein erwachsener Mensch mit Rechten, und alles ist noch ein wenig ungewohnt und so faszinierend einfach: Ich bin ›reif‹ für das Leben –
    Fängt man so ein Tagebuch an?
    Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich heute, im Augenblick, fröhlich bin, glücklich, selig. Draußen vor dem Fenster rauscht das Meer, über dem weißen Sand glüht die Sonne, ich höre die hellen Stimmen Babettes und Ursulas aus dem Wasser – oh, ich könnte die ganze Welt umarmen. Wie schön ist das Leben!
    Ich muß aufhören. Es kommt Besuch.
    Und nicht einmal die erste Seite meines ersten Tagebuches habe ich am ersten Tage voll bekommen.
    (Ich habe eine kleine, zierliche Schrift. Frau Dr. Reiner, unsere Deutschlehrerin, sagte einmal: »Margit, Sie schreiben wie eine Maus.« – Und auch das ist jetzt nur noch Erinnerung … )
    *
    Sie kamen über den weißen Sandstrand gelaufen, jauchzend, übermütig, vom Meerwasser tropfend. Die langen Haare klebten an ihren geröteten Gesichtern. Ihre Bikinis waren knapp, Demonstrationen ihrer jungen, langbeinigen Körper. Unter ihren Füßen wirbelte der Sand auf, und ihre hellen Stimmen übertönten den Wellenschlag. Zwischen sich zerrten sie einen Mann durch den Sand. In seinem korrekten hellgrauen Anzug wirkte er ein wenig lächerlich, zumal, wenn er versuchte, immer wieder stehenzubleiben und dann von den jauchzenden jungen Mädchen an den Händen weiter über den Strand gezerrt wurde.
    »Kinder, meine Schuhe sind voller Sand!« rief Fred Pommer und befreite sich mit einem Ruck aus der Umklammerung der nassen Mädchenhände. »Der Teufel hat mich geritten, daß ich zu euch ans Wasser gekommen bin.«
    Er bückte sich, zog seine leichten Schuhe aus und schüttelte sie. Dabei sah er hinüber zu dem kleinen weißen Haus mit den grünen Fensterläden. Es lag, von einigen Kiefern umgeben, hinter einem Strandweg. Ein weißer Zaun umschloß das Grundstück. Ein winziges Paradies zwischen Sonne und Meer.
    »Seit ich das letztemal hier war, hat sich allerhand geändert«, sagte Fred Pommer und klopfte die Schuhe gegeneinander. »Die Läden waren gelb und der Zaun braun. Aber so ist es besser. Wer hat's lackiert?«
    »Bruder Wilhelm.« Ursula Fürst strich mit beiden Händen die nassen rotblonden Haare aus dem Gesicht. Sie war groß und schlank, die ›Miß Oberprima‹, wie man sie genannt hatte. Ihr Onkel entwarf die Mode, die im nächsten Jahr von den Frauen getragen wurde, und so brachte Ursula Fürst einen Hauch der großen Welt in die Klasse, beneidet und kritisiert und von den Studienrätinnen nicht immer gerecht behandelt. Das Abitur hatte sie gerade so bestanden, mit einem blauen Auge, wie man sagt. »Sie hat einen festen Freund«, munkelte man schon in der Unterprima. Ursula dementierte es nicht, sie schwieg bloß. Und so umwehte sie von jeher der faszinierende Duft der Verrufenheit.
    Ganz anders war Babette Heilmann. Ihr Vater hatte ein Fuhrgeschäft, ließ zehn Lastzüge durch Europa rollen und erholte sich abends von der Tagesmühe beim Fernsehen, einem Liter Bier und drei Bockwürsten mit Senf. Er war nicht vornehm genug, um nicht im richtigen Augenblick auch ›Scheiße‹ zu sagen und vertrat die Ansicht: Abitur für ein Mädchen, na ja, muß sein bei der modernen Auffassung. Aber kochen ist wichtiger. Was soll der Mann später mit Logarithmen in der Küche? Ein gut gebackenes Schnitzel ist wichtiger für eine Ehe.
    Genauso war auch Babette. Hochaufgeschossen, mit einem kräftigen, runden Busen, die braunen Haare in Schulterhöhe geschnitten, mit einem frechen, fast
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