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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Köhlmeier
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Boden.
    Die Befreiten wurden auf verschiedene Wagen aufgeteilt. Frau Prof. Jirtler und ich fuhren mit Hung und einem seiner Brüder in einem Lieferwagen. Bestimmt wurden wir bevorzugt. Vor Fahrtantritt bekamen wir eine Tetanusspritze und Antibiotika. Auch ein Beruhigungsmittel wurde uns gespritzt. Und während der Fahrt reinigte Hung unsere Wunden, strich sie mit Jod ein und verband sie.
    Wenn ich davonkomme, dachte ich, werde ich gehen, gehen, gehen. Ich dachte an Gehen wie an Wassertrinken. Ich werde ein Jahr lang gehen, dachte ich. Ich versprach mir, ein Jahr lang zu gehen. Noch besser: zwei Jahre, drei Jahre, vier Jahre. Zum Glück ist die Welt groß und hat viele Wege. War ich nicht am glücklichsten gewesen, als ich über die Felder ging oder an den Waldrändern entlang oder durch Matschels an der Ill entlang oder nachts über den Gürtel in Wien oder über den Strand in Oostende oder über die Gassen am Prenzlauer Berg oder durch die Straßen von Paris oder New York? Ich brauche auch keine Worte mehr. Will bellen lernen wie die Hunde, kichern wie die Hyänen, fauchen wie Luchs und Kuder, keckern wie Fuchs und Fähe. Weiß nun, dachte ich, dass der Mensch nur allein sein kann, wenn er geht. Will er allein sein, darf er nicht verweilen. Und ich will allein sein. So wie ich geworden bin. Er habe viele Schriften gelesen, sagt Meister Eckhart, sowohl der heidnischen Meister wie der Propheten des Alten und des Neuen Testaments, und er habe mit Ernst und Eifer danach gesucht, welches die höchste und beste Tugend sei, mit der sich der Mensch am meisten und am allernächsten Gott verbindet. So finde ich nichts anderes, als dass lautere Abgeschiedenheit alles übertreffe, denn alle Tugenden haben irgendein Absehen auf die Kreatur, während Abgeschiedenheit losgelöst von aller Kreatur ist. Abgeschiedenheit, dachte ich, kann ich nur finden, wenn ich gehe. Wenn ich davonkomme, dachte ich, werde ich gehen, gehen, gehen.
    Als Frau Prof. Jirtler und ich erwachten, lagen wir nebeneinander in sauberen Betten in einem sauberen, hellen Zimmer, durch dessen Fenster wir in einen Garten sehen konnten. Leider hatten die Bäume kein Laub mehr. Aber gut, es war später Herbst. Dass ich die Jahreszeit als späten Herbst klassifizieren konnte, verdankte ich einer Schlussfolgerung: im Oktober waren wir gekommen, höchstens einen Monat waren wir geblieben; wenn länger, wären die Wunden besser verheilt. Und dass ich schlussfolgern konnte, daraus schloss ich: Es geht aufwärts mit mir. Wir waren gewaschen, trugen gestärkte, geplättete, nach Reinheit duftende Spitalskittel, in unseren Armen steckten Infusionsnadeln. Mein gebrochener Arm war eingegipst, unsere verstümmelten Hände waren fachmännisch versorgt und eingebunden. Nicht einen Schmerz registrierte ich, nirgends.
    Frau Prof. Jirtler sagte einmal zu mir, in der Nacht sagte sie es, als nur ein Schein von irgendwoher durch das Fenster zu uns drang: »Ich fürchte mich so sehr vor dem Sterben und vor dem Tod auch, und was habe ich für ein trostloses leeres Leben geführt!«
    Ich sagte, sie solle es so sehen, dass die Gedanken an den Tod nichts Gutes sind, sondern dass sie das Urteil über das Leben, das man geführt hat, verfälschen. Das solle sie bedenken.
     
    Nach einem weiteren Monat fuhren wir mit der Eisenbahn nach Hause. Hung hatte alles für uns erledigt. Wir wurden vor unserer Abreise von niemandem befragt. Niemand verlangte unterwegs unsere Papiere. Drei Tage und zwei Nächte dauerte die Fahrt. Frau Prof. Jirtler und ich hatten jeder ein eigenes Abteil zur Verfügung, darin befanden sich ein schmales Bett, zwei Sessel, ein Tischchen und ein kleiner, aber wohl ausgestatteter Waschraum. In einem dritten Abteil war Hung untergebracht. Nie schlief ich ein, ohne dass mir Hung eine gute Nacht gewünscht hätte. Das Essen wurde uns serviert. Wir nahmen es gemeinsam ein, abwechselnd in Frau Prof. Jirtlers oder in Hungs oder in meinem Abteil. Unsere Wunden waren verheilt, die Knochen in meinem Unterarm zusammengewachsen. Den kleinen Finger an der rechten Hand hat man weniger nötig, als man glaubt. Wir sind günstig davongekommen, wenn man bedenkt, dass es auch der Daumen hätte sein können. Außerdem war nur das oberste Glied abgehackt worden. Meistens hält man die Hand leicht geballt, niemandem fällt etwas auf. Und wenn jemandem etwas auffällt, fragt er nicht nach. Und wenn doch jemand nachfragt, sag einfach: »Ach, diese Geschichte erzähl ich dir ein andermal.«
    Hinter
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