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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Köhlmeier
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ist, um je glücklich zu sein. Wenn jemand Frau Prof. Jirtler fragte, wer diese Frau sei, antwortete sie, ihre Schwester.
    Schließlich spielte sie gegen zwei gleichzeitig. Dann gegen drei. Zuletzt simultan gegen vier, da war es schon über Mitternacht. Damit war unsere betrügerische Absicht erwiesen: Eine Großmeisterin hatte sich eingeschlichen, eine aus dem reichen Westen obendrein, um armen russischen Menschen das Geld aus dem Sack zu spielen. Sie und ihr Einpeitscher. Ihr Zuhälter, der die Bank verwaltete. Ich wurde öfter angesehen als Frau Prof. Jirtler. Man hielt mich für den Anstifter, für den Schlimmeren. Auch weil ich schöner war als sie. Schachspieler sind Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen. Hässliche Menschen haben es bei Schachspielern leichter. Schöne Menschen – was haben die hinter einem Schachbrett verloren! Darum war Kasparow nicht beliebt. Und Bobby Fischer mochte man erst, als er älter war und der Wahnsinn sein Antlitz sichtbar im Griff hatte. Aber ein Schöner, der nichts anderes tut, als hinter der hässlichen Meisterin zu stehen, erst zu locken und dann abzukassieren, dem würde man gern das Gesicht korrigieren.
    »Gehen wir«, sagte ich. »Sofort!«
    Und war schon draußen. Frau Prof. Jirtler lief hinter mir her. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass drei Männer sie niederrangen. Ich rannte durch die leere Bahnhofshalle, zog den Reißverschluss an der Manteltasche zu, damit das Geld nicht herausfiel. Es war ein Kopfbahnhof, aber keine Züge standen hier. Auch keine Menschen waren hier, oder ich nahm sie nicht wahr. Ich wurde zu Boden gerissen.
     

9
     
    Sie stießen uns in einen Laster, schlugen die Tür hinter uns ins Schloss und fuhren los. Drinnen war es dunkel, über einen Lautsprecher dröhnte Rockmusik. Nach einer Weile wurde die Musik abgeschaltet. Es dauerte, bis die Ohren wieder feiner hörten. Ich hörte das Motorengeräusch. Ich hörte Wimmern. Ich fragte laut nach Frau Prof. Jirtler. Sie antwortete mit klarer Stimme. Ich fragte, ob sie verletzt sei. Sie habe einen Tritt in den Rücken bekommen, sagte sie. Wir beide waren in dem Laster nicht allein. Die Augen konnten sich nicht anpassen wie die Ohren. Es war absolut dunkel. Wir saßen in einer Art Möbelwagen, glaubte ich, in einem Container aus gewelltem Stahl. Die Wände waren aus Stahl, der Boden und die Decke ebenso. Wenn ich aufstand und den Arm ausstreckte, erreichte ich die Decke. Aus dem Motorengeräusch schloss ich, dass der Wagen langsam fuhr. Aus den Bewegungen schloss ich, dass wir über unebenes Gelände fuhren. Ich vermutete, wir fuhren über weiches Gelände, über eine Wiese, über Lehmboden, über Sand. Ich fragte nach den anderen, erhielt aber keine Antwort. Ich kam mit ihnen in Berührung. Wenn ich den Arm um mich kreisen ließ, kam ich mit ihnen in Berührung. Erst dachte ich, es seien Tiere. Nämlich, weil ich Haare ertastete. Ich ertastete haarige Arme und haarige Köpfe. Ich dachte, es sind Tiere, die schlafen. Ich fragte Frau Prof. Jirtler, ob sie auch den Eindruck habe, dass wir nicht allein seien. Sie hatte auch den Eindruck. Ich sagte, ich würde mich gern neben sie setzen, es wäre besser, wenn wir beieinander blieben. Ich saß hinten bei der Tür, sie vorne beim Fahrerhaus. Ich sagte, ich wolle versuchen, mich zu ihr durchzutasten. Es gelang mir nicht. Nämlich, weil der Laster voll mit Lebewesen war. Ich hätte auf sie drauftreten müssen. Ich sage Lebewesen und nicht Menschen, weil ich nicht wusste, ob es tatsächlich Menschen waren.
    Ich glaube, wir fuhren viele Stunden, und es hörte sich immer an, als führen wir über Weiches, weicher als gewöhnlicher Grasboden, moorig weich. Ich müsste vor jeden Satz stellen: Ich glaube. Denn nichts kann ich mit Sicherheit behaupten. Zwischendurch rief ich nach Frau Prof. Jirtler, oder sie rief nach mir. Mehr, als uns gegenseitig zu versichern, dass wir noch lebten, konnten wir nicht tun. Am Anfang, das habe ich vergessen zu erwähnen, hatte es nach Apotheke gerochen, dieser Geruch war bald nicht mehr. Sehr kalt war es. Ich in meinem Mantel hatte es gut. Der Wagen blieb stehen, ich bildete mir ein, draußen Stimmen zu hören. Sicher bin ich mir nicht und war mir nicht sicher. Nach wenigen Minuten ging die Fahrt weiter. Vielleicht war Kraftstoff nachgefüllt worden. So verrückt es klingt: Ich schlief ein.
    Ich schlief sehr tief.
    Ich wachte auf, weil ich am Kragen aus dem Laster gerissen wurde und draußen auf den Seitenholm der Rampe fiel und
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