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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium
Autoren: Christin C. Mittler
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bei mir.
    »Geht schon mal vor, ich komme nach.«
    »Was hast du denn?«, fragte Noemie.
    Ich machte eine leicht gequälte Miene. »Ich brauche dringend eine Toilette.«
    »Du kannst doch oben gehen«, erwiderte sie.
    »Glaub mir, es ist sehr dringend!«
    Ich ließ die beiden stehen und folgte dem großen, blauen Pfeil, der auf die nächste Toilette hinwies. Als ich um die Ecke ve rschwunden und sie außer Sichtweite waren, lehnte ich mich an die Wand.
    Ich musste nicht lange warten. Es war kein Luftzug oder leises R ascheln. Das, worauf ich wartete, war einfach so von einem Moment auf den anderen da.
    » Bonjour papa «, flüsterte ich.
    Die Gestalt, man konnte es nur bedingt Geist nennen, stand keine zwei Meter neben mir.
    Das verschwommene Abbild meines Vaters sah g enauso aus wie ich ihn in Erinnerung hatte. Von den kurzgeschnittenen braunen Haaren, der Brille mit den eckigen Gläsern, über sein Lieblingshemd, bis hin zu den schwarzen, italienischen Schuhen. Er war blass. Nicht so wie man Geister in Kinderfilmen kennt, nicht durchsichtig, einfach blass. Wie eine Person auf einem vergilbten Foto.
    »Was mac hst du hier?«, fragte ich leise.
    »Nach euch sehen.« Damit hatte ich gerechnet. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, waren seine Worte vorhersehbar. Was ich jedoch nicht erwartet hatte, war seine Stimme.
    Bei einem meiner Besuche hier, hatte ich ihn gesehen und im selben Augenblick gewusst, dass nur ich ihn sehen konnte. Auch wenn es eher zu meiner Mutter gepasst hätte. Bereits damals war er wie ein Phantom gewesen, seine Stimme leise. Nun war ihr Klang verzerrt und kaum mehr als ein Echo. Als würde er jede Sekunde verstummen. Als wäre die Zeit bald abgelaufen.
    »Ich habe keine Zeit«, sagte ich. »Sie w arten auf mich!« Und wenn jemand sieht, wie ich mit mir selbst rede, bekomme ich das Zimmer neben meiner Mutter.
    Das Echo in Gestalt meines Vaters ging darauf nicht ein. »Wie geht es dir?«
    »Du weißt, dass ich das nicht weiß«, entgegnete ich.
    Ich musste mich korrigieren: Es gab jemanden, der von meiner Gefüh llosigkeit wusste. Er. Die Gestalt, die wusste, wer er war und wer ich war, die sich an einzelne Momente aus unserem Leben erinnerte. Aber sie war nicht der Mathieu Durands, den ich gekannt hatte.
    » Versuch es«, murmelte er. Ja, das hätte mein Vater vermutlich auch gesagt, wenn er gewusst hätte, was mit mir nicht stimmte.
    » Hast du maman gesehen?«, fragte ich stattdessen. »Sie wirkt normaler, gesünder, aber ich glaube nicht, dass es ihr schon wieder gut geht. Nur Noemie ist wieder Noemie. Ich träume wieder«, bemerkte ich dann. »Die Leere verstärkt sich …«
    Die Gestalt erstarrte in ihrer Bewegung. Auf dem Gesicht meines Vaters erschienen kleine Fältchen. »Vielleicht ist das ein Zeichen der Besserung. Vielleicht wird sich etwas ändern.«
    Dann verblasste er, bis er endgültig verschwand.
    Mit einem wackligen Gefühl in den Beinen, das nichts mit meinem Muskelkater zu tun haben konnte, ging ich wieder zurück.
    In der Zwischenzeit hatte der Park sich verändert. Die Sonne war hi nter einer Wolkenfront verschwunden. Im Wetterbericht hatte es geheißen, es würde gegen Abend regnen. Die meisten Patienten hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Ein Blick auf die Uhr sagte mir warum: In einer halben Stunde gab es Essen und wenn es etwas gab, worauf man hier Wert legte, dann war es Routine. Die wenigen, die noch draußen waren, vertraten sich die Beine. Unter ihnen war auch Remy, der einen khakifarbenen Angelhut trug.
    Er winkte mir zu.
    Ich winkte zurück.
    Er war ein seltsamer Mann – auch wenn diese Formulierung unter di esen Umständen komisch klang – ein seltsamer, eigenbrötlerischer Mann, der glaubte, die Schatten seien seine Feinde. Gleichzeitig hatte er etwas an sich, das ihn schon von weitem nett wirken ließ.
    Wieder im Gebäude folgte ich einer weiteren Linie – dieses Mal der einer gelben – ehe ich vor den Aufzügen innehielt. Ich starrte auf die verschiedenen Schilder, die darauf hinwiesen, dass der Aufzug im Brandfall nicht genutzt werden durfte und eine Übersicht, in welchem Stockwerk welche Abteilung lag. Die Fachbegriffe waren derart kompliziert, dass ich es aufgab, sie zu verstehen.
    Schließlich kam der Aufzug an. Die Türen öffneten sich. Doch noch bevor ich einen Schritt hinein machen konnte, lief Noemie in mich hi nein.
    »Wieso bist du schon wieder unten?«, fragte ich sie.
    Noemie zuckte mit den Schultern. »Sie ist müde, wollte vor dem Essen etwas
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