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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium
Autoren: Christin C. Mittler
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schlafen. Gerade kam ein Pfleger mit ihren Medikamenten – sie hat sie widerstandslos genommen.«
    »Gut, dann lass uns gehen.«
    Gemeinsam verließen wir das Sanatorium und machten uns auf den Weg zur nächsten Metrostation.
    »Cassim«, fragte sie einige Meter weiter.
    »Ja?«
    »Glaubst du, sie kommt bald wieder nach Hause?«
    »Es gibt kein zu Hause mehr, unsere Wohnung ist seit einem Jahr verkauft.«
    Wir hatten eine schöne Vierzimmerwohnung in der Rue Cherche- Midi gehabt, in der wir vier Jahre lang gelebt hatten. Paris war für mich zu dieser Zeit nie meine Heimat gewesen, aber diese Wohnung war einem zu Hause noch am nächsten gekommen.
    »Du weißt, was ich meine.«
    »Nein, ich glaube nicht, dass sie in nächster Zeit rauskommt. Dasselbe dachten wir letztes Jahr und das Jahr davor auch. Jedes Mal wirkt sie gesund, sie lächelt, sie arbeitet im Garten, strickt oder macht sonst etwas. Dann kommt doch der Punkt, an dem sie sich weigert, ihre Medikamente zu nehmen oder sie sperrt sich im Badezimmer ein. Und die behandelnden Ärzte fragen uns, wie wir an eine Entlassung auch nur denken könnten.«
    »Wir hatten die Hoffnung, dass sie sich dann weniger auf die D aten konzentriert. Heute ist der siebte April, dennoch hat sie nichts gesagt.«
    »Ja, das hat mich auch gewundert.«
    Eine halbe Stunde später betraten Noemie und ich das Grundstück unserer Großeltern.
    Ihre Villa zählte zu den ältesten in unserem Arrondissement – ein riesiges Gebilde aus Sandstein mit hohen Rundbogenfenstern. An der Fassade rankten tiefrote Kletterrosen neben den vereinzelten Rissen im Stein, die zwei Mal jährlich repariert wurden.
    Das mannshohe, zweiflügelige Gartentor ließ sich wie immer nur mit Mühe öffnen; es quietschte und konnte dringend einmal eine Ölung vertragen. Beeindruckender war das Eingangsportal, das so alt aussah, als stamme es aus einer Zeit, in der man feindliche Stadttore noch mit Baumstämmen zertrümmern musste. Ein gusseiserner Löwenkopf mit aufgerissenem Maul, ebenso aus Eisen wie das Gartentor, stellte den Türklopfer da. Eine Klingel gab es nicht.
    Bei meinen ersten Besuchen hatte ich gedacht, dass dieses Haus auch gut als Set für einen Horrorfilm herhalten würde. Fehlten nur noch die Raben, Blitze und mehr Unkraut.
    Die Tür wurde geöffnet N icht jedoch von meinem Großvater, bekannt als Sebastien Comte Durands – der sich meiner Meinung nach auf seinen Adelstitel mehr einbildete als er wert war – noch von mamé , sondern von Henry.
    Wie immer machte er eine angedeutete Ve rbeugung vor uns, wobei seine Gelenke unheilverkündend knacksten. »Die Damen sind zurückgekehrt«, begrüßte er uns mit einem Lächeln. Es war so gewählt, dass man die fauligen Zähne dahinter nur erahnen konnte. »Ich hoffe, Madame Durands geht es gut.«
    »So gut es einem gehen kann , wenn man in der Klapse ist. Danke, Henry«, erwiderte Noemie spitz. Die beiden hatten sich nie leiden können.
    Henry tat so, als hätte er ihre Bemerkung überhört und nahm uns stat tdessen unsere Jacken ab.
    Aus Gewohnheit ließ ich meinen Blick durch den Raum schwe ifen. Er war so groß wie unsere halbe Wohnung. Die Decke war hoch und mit weißem Stuck verziert. Die steinerne, geländerfreie Wendeltreppe, die in der Mitte des Raumes stand, wurde von der Sonne gut in Szene gesetzt. An den Wänden wechselten sich antike Statuen mit Gemälden von Paris aus verschiedenen Perspektiven ab. Auf den meisten waren die größten Kirchen der Stadt ein besonderer Blickfang.
    »Die Dame des Hauses lässt fragen, ob Sie etwas essen möchten. Ari ane hat etwas vom Mittagessen aufgehoben.«
    Noemie dachte einen Augenblick lang nach. »Gab es zum Nac htisch Obstsalat? Wenn ja, möchte ich nur davon etwas. Ich werde in zehn Minuten im Esszimmer sein.« Sie hatte es nie offen zugegeben, doch ich wusste, dass ein Teil von ihr es genoss, bedient zu werden.
    »Ich soll Ihnen des Weiteren von Monsieur Chevalier ausric hten, dass Ihr Geigenunterricht morgen entfällt.« Dann wandte er sich mit einem fragenden Blick an mich.
    »Ich denke, ich werde in die Bibliothek im Erdgeschoss gehen«, ve rkündete ich einer plötzlichen Eingebung folgend. »Könnten Sie mir einen Kaffee mit Milch bringen?«
    Nachdem er genickt und in Richtung Küche verschwunden war, ging ich in die Bibliothek des Hauses. Genau genommen war es nur die ha lbe, da im ersten Stockwerk ein weiterer Raum mit mehr oder weniger bekannten Büchern gefüllt war.
    Eine weitere Viertelstunde
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