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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium
Autoren: Christin C. Mittler
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nichts . Dann fing sie sich wieder. »Er ist älter als ich. Sechzehn oder siebzehn, in Cassims Jahrgang. Ich glaube, sie haben Deutsch zusammen.«
    Der Elefant im Porzellanladen ist zurückgekehrt!
    Das Lächeln meiner Mutter erstarb endgültig, wie ein Kartenhaus fiel ihr Gesicht in sich zusammen. Ein trauriger Ausdruck, den ich nur zu gut kannte, trat auf ihr Gesicht. »Du lernst weiterhin Deutsch?!«
    »Genau genommen lerne ich nicht mehr. Du weißt besser als jeder andere, dass ich es kann. Aber ich besuche weiterhin den Kurs, ja.«
    »Du weißt, dass mir das nicht gefällt. Wir leben in Frankreich, Französisch ist unsere Sprache.«
    »Interessanterweise sind Spanisch und Englisch auch kein Pro blem. Diese Sprachen soll ich sogar lernen«, erwiderte ich tonlos.
    »Das ist etwas anderes.«
    »Nur, damit ich das nicht falsch verstehe: Die Frau, die vor ihrer Hochzeit kaum mehr als ein Baguette auf Französisch bestellen konnte, verbietet mir meine Muttersprache zu sprechen?« Noch immer klang meine Stimme kalt und emotionslos.
    Ich beobachtete , wie meine Mutter blass wurde. Ihr Leuchten wurde intensiver, fast schon schmerzhaft grell.
    Seit ich denken konnte war ich in der Lage zu erkennen, wenn meine Mutter oder irgendein anderer Mensch Sehnsucht empfand. Anfangs hatte ich es nie verstanden, wenn ich andauernd Me nschen begegnet war, die in den unterschiedlichsten Formen geleuchtet hatten. Eine Zeit lang hatte ich geglaubt, dass ich in der Lage wäre, den Menschen starke Gefühle anzusehen. Aber es war nur die Sehnsucht.
    Ich wusste nicht immer, wonach sie sich sehnten, aber bei meiner Mu tter war es nicht allzu schwer zu erkennen gewesen. Spätestens als ich nach dem Tod meines Vaters in ihrer Gegenwart am liebsten eine Sonnenbrille getragen hätte.
    »Maman?«, fragte Noemie besorgt. Sie nahm ihre Hände in ihre und drückte sie behutsam, nicht ohne mir einen bösen Blick zuzuwerfen.
    Nicht ganz unberechtigt wie ich zugeben musste:
    Ich hatte es geschafft, das einzige Thema anzuschneiden, dass wir ihr gegenüber niemals erwähnen sollten – zumindest nicht, wenn man wollte, dass sie ihren Aufenthalt hier nicht noch verlängern musste: Die Ehe mit meinem Vater!
    Wenn es etwas gab, was mir sonst nicht passierte, dann war es die Ko ntrolle zu verlieren. Für gewöhnlich war ich die Beherrschung in Person. Ich wurde zu keiner Zeit ausfallend oder aggressiv. Ich weinte nicht, nicht bei traurigen Filmen oder Nachrichten im Fernsehen. Nicht einmal auf Beerdigungen. Ich machte keine Luftsprünge, wenn ich gute Noten schrieb oder Geschenke bekam.
    Ich empfand keine Gefühle!
    Zumindest nicht mehr. Als ich noch mit meinen Eltern zusammen gelebt hatte, war ich ein fröhliches, viel lachendes Mädchen gewesen. Aber ich hatte auch weinen und mit den Füßen stampfen können – als mein französischer Vater und meine deutsche Mutter mir vor sieben Jahren eröffnet hatten, dass wir von Köln nach Paris ziehen würden, zum Beispiel.
    Geändert hatte sich das als meine Mutter hierher gebracht worden war. Seitdem empfand ich nichts außer Pflichtbewusstsein, inklusive einem ausgeprägtem Beschützerinstinkt gegenüber meiner Familie, und physischen Schmerz. Dazu hatte ich einen Hang zum Sarkasmus.
    Alles andere, was meine Mitmenschen glaubten von mir zu sehen, war Schauspielerei . Aber das wusste niemand.
    »Wir sollten uns nicht stre iten«, bemerkte ich.
    Es wäre nicht fair gewesen, es auf einen Streit hinauslaufen zu lassen. Es würde ihr nicht gut tun; sie war schließlich nicht u msonst länger hier als nur zu einem Wochenendbesuch.
    »Ich möchte auf mein Zimmer gehen.« Die Stimme meiner Mutter zi tterte leicht.
    »Natürlich«, murmelte Noemie. Abermals warf sie mir einen Blick zu, der mir verdeutlichen sollte, nichts anderes zu sagen.
    Wer hatte de nn erzählt, dass ich weiterhin Deutsch hatte?
    Wortlos gingen wir zurück ins Gebäude.
    Meine Schwester hakte sich bei unserer Mutter unter, ich verzichtete darauf. Ich war nicht der Typ für körperliche Nähe jeder Art. Ob das erst so war, seit ich meine Gefühle verloren hatte oder schon vorher, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen.
    Die Menschen um uns herum wirkten alle freundlich, geradezu normal. An einem anderen Ort hätte man nicht vermutet, dass sie so große Probleme hatten, dass es besser für sie war, in einer Klinik zu leben.
    Kaum hatten wir das Gebäude betreten, fiel mir etwas zu meiner Linken ins Auge.
    Damit hätte ich rechnen müssen!, dachte ich
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