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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium
Autoren: Christin C. Mittler
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später saß ich mit meinem Milchka ffee in einem der dunkelgrünen Ohrensessel.
    Statt zu lesen, betrachtete ich geistesabwesend die Porträts an den Wänden, auf denen die Mitglieder meiner Familie der letzten zwei Jahrhunderte abgebildet waren.
    Viele von ihnen waren den Parisern ein Begriff, meine Familie war schon immer recht bekannt gewesen, doch wussten nur die wenigsten, dass diese Menschen mehr verband als die DNA: Beinahe jeder von ihnen war dem Wahnsinn verfallen und beziehungsweise oder viel zu jung gestorben.
    Einer der ersten in den Reihen war beispielsweise ein grauhaariger un iformierter Mann. Sein Gesicht war faltig, über dem linken Auge trug er ein kreisrundes Monokel. Trotz seines Alters war er zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter Napoleons Kommando in Russland gewesen und dort erfroren. Angeblich soll er kurz vor seinem Tod noch versucht haben, einen anderen, bereits toten Soldaten zu essen. Wärmflaschen und genügend Essen waren im Gegensatz zu Pferden und Waffen offenbar keine Priorität auf der Einkaufsliste gewesen.
    Ein paar Bilder weiter hing das Porträt eines hübschen, blonden Mä dchens mit Grübchen im Gesicht. Kurz nachdem dieses Porträt entstanden war, hatte sie eine Affäre begonnen. Ihr Geliebter hatte sie jedoch wenige Wochen später hintergangen und ihren Ehemann überfallen. Bei einem darauffolgenden Streit war sie zwischen die Fronten geraten und hatte dank eines Messers sowohl ihren Ehemann als auch ihr halbes Gesicht einbüßen müssen. Ihr Geliebter war wegen Mordes ins Gefängnis gewandert. Das Messer hatte meine Vorfahrin behalten und sich eine Woche nach den Ereignissen damit erstochen. Und damit meinen Ururgroßvater zur Vollwaise gemacht.
    Eine Zeit lang hatte ihr Bild aufgrund ihres Selbstmordes im Ke ller gestanden, aber schließlich hatte selbst meine konservative Familie eingesehen, dass sie ein Opfer unglücklicher Umstände gewesen war.
    Das neueste Bild zeigte meinen Vater.
    Er war dankenswerterweise nie wahnsinnig geworden – zumindest nicht so, dass ich es mitbekommen hätte – doch auch er war vor drei Jahren jung gestorben und hatte damit den sprichwörtlichen Rubel ins Rollen gebracht:
    Meine Eltern hatten sicherlich nie die perfekteste aller Ehen g eführt, aber wenn sie sich gestritten hatten, war ich nach dem ersten Schrecken dennoch immer überzeugt gewesen, es sei nichts Dauerhaftes. Gewisse Streits gehörten dazu wie bei meiner Schwester und mir.
    Doch ich konnte mich nicht erinnern, dass es jemals so schlimm gew esen war wie am 7. April 2009. Nachdem meine Mutter meinen Vater eine halbe Stunde lang – gefühlte drei – angeschrien hatte, hatte mein Vater wutentbrannt das Haus verlassen. In unserer Küche hatte meine Mutter währenddessen geschluchzt und sowohl auf deutsch als auch auf französisch geflucht.
    In dieser Nacht hatte ich einige neue Schimpfwörter gelernt.
    Wir hatten den Abend ohne meinen Vater verbracht; nur zu dritt im Wohnzimmer vor dem offenen Kamin auf dem alten Stoffsofa. Mitten in der Nacht hatte meine kleine Schwester begonnen zu weinen. Ich war die, die aufgestanden war und sie getröstet hatte. Ich war diejenige gewesen, die unseren Vater dann ein Dutzend Mal angerufen hatte – erfolglos.
    In den nächsten Tagen kam er nicht wieder . In der Hoffnung, er würde sich wenigstens bei uns melden, hatten Noemie und ich jeden Nachmittag unsere E- Mails kontrolliert. Bei den Briefen waren nur Rechnungen und die Postkarte einer Verwandten auf Hochzeitsreise gewesen. Auf den Anrufbeantworter hatten meine Großeltern, ein Arbeitskollege und eine Wohltätigkeitsorganisation, der wir regelmäßig Geld spendeten, gesprochen.
    Am folgenden Donnerstag war meine Mutter zur Polizei gegangen, um ihn als vermisst zu melden.
    Eine Woche später wurde sein Renault in Vaugirard gefunden, keine 200 Meter vom Ufer der Seine entfernt; vollkommen unbeschädigt, aber verlassen.
    Man fand ihn erst am 25. April vor der Pforte einer Kirche. Zu diesem Zeitpunkt war er einige Tage tot gewesen.
    Ich erfuhr davon in der Schule; kaum hatte mein Biologiekurs bego nnen, war ich aus dem Unterricht geholt worden – und war erst einige Tage später zurückgekehrt.
    Die Beerdigung war voll von Menschen g ewesen, von denen ich die Hälfte nicht einmal gekannt hatte. Nahe und entfernte Verwandte, alte Schulfreunde, Arbeitskollegen, ein Vertreter der Stadt. Es hatte viele traurige Reden, viele Blumen und viele Tränen gegeben.
    Aber niemand hatte so große
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