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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium
Autoren: Christin C. Mittler
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erinnerte sie daran, dass er versuchte, so viel wie möglich zu kontrollieren.
    Mein Großvater wandte sich an mich und begann ein Gespräch über meinen Unterricht. Doch keines der Themen, die ich ihm nannte, schien ihn sonderlich lange halten zu können. Bei Religion wirkte er sogar enttäuscht, was ich mir hätte denken können. Religionskritik war nicht gerade das, worüber ein sehr gläubiger Katholik wie er reden wollte.
    »In letzter Zeit werden wichtige, französische Adelsfamilien in der Schule angesprochen«, bemerkte ich nebenbei. »Glaubst du, dass die Durands’ auch vorkommen könnten? Abgesehen von den Geschichten, die du erzählt hast, weiß ich nicht allzu viel über unsere Familie …«
    »Ich gebe es nur ungern zu, aber …« Er zögerte überdeutlich. »Es gibt soweit nichts, was die Durands ’ in die Geschichtsbücher gebracht hat«, erklärte er und verzog das Gesicht. Männer und ihr Stolz! »Dein Vater war dennoch stolz auf seine Herkunft. Das solltest du auch sein.«
    »Natürlich.« Wer war nicht stolz auf eine Familie, die die Nummern vom Mutter Wahnsinn und Vater Tod auf Kurzwahl eingespeichert hatten? Auf Psychologen bekamen wir sicherlich Familienrabatt.
    Als keiner mehr den Versuch unternahm, mich in ein Gespräch zu ve rwickeln, drifteten meine Gedanken ab. Die Geräusche um mich herum verstummten, ich nahm keinen aus meiner Familie mehr wahr. Mein neuer Tunnelblick schweifte umher, bis er an der Tür zum Büro meines Großvaters hängen blieb.
    Zunächst wirkte alles normal. Da war das Holz mit dem go ldenen Türgriff. Daneben stand eine alte, schwarz lackierte Kommode auf vier Krähenfüßen – eine von der Sorte, an denen man sich regelmäßig die Zehen stieß.
    Darüber hing für gewöhnlich ein langer, smaragdgrüner Vorhang. Ich hatte immer geglaubt, er sei nicht mehr als Dekoration, weil sich dahinter nichts befand als die beige- grün gestreifte Tapete. Nun fehlte der Vorhang.
    Das Ölgemälde zeigte einen gewaltigen Spiegel . Seine goldenen Umrisse schienen selbst im fahlen Licht zu leuchten. Prunkvolle Verschnörkelungen und detailreiche, ineinanderverflochtene Ranken zierten den breiten Rahmen. Die vereinzelten Andeutungen von Blüten erinnerten mich an die Pflanzen im Garten der Villa.
    Etwas ging von diesem Bild aus, das nicht in Worte zu fassen war, jedoch meinen Herzschlag augenblicklich beschleunigte.
    Ich starrte das Porträt an und konnte den Blick nicht abwenden; ich konnte mich nicht lösen. Kein anderes Bild, das ich jemals in Museen oder in der Schule gesehen hatte, hatte mich bisher derart in seinen Bann ziehen können. Es brachte mich dazu, einen A ugenblick lang zu vergessen, dass ich atmete; ich wusste nicht mehr, wo ich war, warum ich hier saß, ich bemerkte nicht einmal mehr, dass ich aß. Es rief einen plötzlichen Schmerz in mir hervor, der in meinem Herzen begann und sich in meinem Körper ausbreitete, meine Muskeln lähmte; eine andere Leere als die, mit der ich mich vorhin noch abgekapselt hatte, umhüllte mich.
    Irgendwann nahm ich meine Umgebung wieder wahr, ich hörte, wie jemand etwas von »Cassim« und »Schock« murmelte. Jemand anderes, vermutlich mein Großvater erwiderte: »Unsinn.«
    Worum ging es noch mal? Was war los?
    Eine Hand legte sich auf meine Schulter; sanft, aber bestimmt. Meine Arme zuckten leicht. »Kind, was hast du denn?«, fragte meine Großmutter und durchbrach die Mauer zu mir. Sie beugte den Kopf behutsam vor; ich konnte ihren Atem an meinem Hals spüren.
    Ich konnte den Blick noch immer nicht abwenden.
    Es dauerte weitere zwei Minuten, ehe ich erwiderte: »Seit wann hängt dieses Porträt dort?«
    Ich hatten den Satz noch nicht ganz beendet, als mehrere Dinge gleic hzeitig geschahen: Meinem Großvater rutschte seine Kaffeetasse aus der Hand. Das teure Porzellan zersprang mitsamt Untertasse in seine Einzelteile. Kaffee färbte den vermutlich ebenfalls teuren Teppich dunkler. Er selbst sprang wie von der Tarantel gestochen auf, sein Blick war gehetzt. Mamé s Hand grub sich in meine Schulter.
    Erst als ich Noemie fragen hörte »Wo siehst du denn da ein ne ues Bild?« konnte ich den Blick abwenden.
    Ich blinzelte, während ich dabei zusah, wie mamé Ariane rief und diese die Scherben aufsammelte. Ein Ziehen in meiner Brust beendete meine Trance endgültig.
    Noemie warf mir einen fragenden Blick zu, doch ich zuckte nur mit den Schu ltern. Wie hätte ich ihr erklären sollen, was passiert war? Wo ich mir selbst nicht einmal
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